„Früher oder später ging´s gar nicht mehr darum, wer die Zitrone am längsten auf der Stirn hatte, sondern, wer als erster vom Stuhl fiel!“
Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten, sein Lachen allein war schon so ansteckend und das Bild von ihm und seinen Freunden, wie sie mühsam, im bereits fortgeschritten alkoholisierten Zustand, auf ihren Stühlen balancierten, tat sein Übriges. Es war uns unmöglich, uns zu beruhigen, wann immer wir einander ansahen, ging es wieder von vorne los; bis es donnerte.
„Oha“, stellte ich fest. War Gewitter angesagt worden?
Überrascht sahen wir in den Himmel. Es hatte tatsächlich zugezogen und von Westen her wurde es tintenschwarz. Als die ersten Tropfen fielen, wechselten wir ins Wohnzimmer, wo wir uns auf die Couch lümmelten.
Sebastian war offensichtlich in Stimmung, das bereits angeschnittene Thema weiter zu vertiefen. Mir war es durchaus recht, je mehr die anderen redeten, desto länger konnte ich schweigen.
Sein bester Freund hieß also Etiénne, Franzose, no na, derzeit zu Hause in Strasbourg, wo er als Aeronautik-Ingenieur tätig war, verheiratet mit Irina, mit der er zwei Kinder hatte.
„Woher kennt ihr euch?“ fragte ich neugierig.
„Von der Uni. Etiénne hat an der ETH zwei Auslandssemester absolviert, da sind wir einander über den Weg gelaufen.“
„Du hast an der ETH studiert? Was genau?“ Ein Techniker? Herr, steh´ mir bei!
„Ingenieurswissenschaften mit Schwerpunkt Maschinenbau.“
Ich wusste es. In meinem Magen begann es, etwas unangenehm zu ziehen. (Dazu sollten etwas wissen: Ich war lange Zeit mit einem Techniker zusammen gewesen, mein Vater war selbst einer und wenn ich eines über diese Spezies gelernt habe, dann, dass man sich in allen Belangen auf sie verlassen kann, solange man nicht von ihnen verlangt, sich mit ihren eigenen oder den Gefühlen anderer auseinanderzusetzen. Wenn es für ein Problem keine „technische“ Lösung oder Herangehensweise gibt, sind sie schnell überfordert. Jedenfalls wusste ich jetzt, woran ich war.)
Diese Antwort brachte mich aber auch gleich zu nächsten Frage: „Was genau arbeitest du eigentlich?“ Klassisch, oder? Da war bereits meine sexuelle Ausrichtung zur Sprache gekommen, aber ich wusste nicht einmal, was der Mann beruflich machte.
„Ich arbeite für ein Familienunternehmen und betreue von hier aus die Töchter in Tschechien und Italien.“
„Betreuen?“
Er schenkte mir einen Blick, mit dem man ein Kind ansieht, das zu neugierig ist.
„Die technische Ausstattung der Produktionsstätten und noch ein paar andere Belange.“
Ok, ich war ja nicht bar aller Erkenntnis und erkannte, dass ich hier und jetzt keine ausführlichere Antwort bekommen würde. Also verkniff ich mir alle weiteren Fragen. Stattdessen schüttelte ich kritisch meine Bierflasche, die merklich an Gewicht verloren hatte.
„Noch eines?“ fragte Sebastian.
Ich „hmte“ in meinen Bart. So ein weiteres Bier war schon verführerisch, allerdings wäre mein Gastgeber dann in den zweifelhaften Genuss meiner angeheiterten Wenigkeit gekommen, denn mein Magen hatte seit dem Frühstück am frühen Morgen keine weitere feste Nahrung gesehen. Mit einem entschuldigenden Grinsen verlieh ich meinem Gedankengang Ausdruck.
„Dann also etwas zu essen“, stellte er fest, „Kommt gleich.“
Neugierig folgte ich ihm in die Küche, wo er mit kritisch zusammengezogenen Augenbrauen vor dem Kühlschrank stand. Vollkommen unaufgefordert produzierte mein Gehirn den Gedanken, dass seine Augenbrauen ein unabhängiges Gespräch miteinander führen konnten, wenn er sie noch weiter zusammenzog. Manchmal wunderte ich mich über mich selbst und meine verqueren Gedankengänge.
Mit einem missbilligenden Geräusch schloss er den Kühlschrank wieder.
„Nichts Gescheites da“, meinte er entschuldigend und hob die Schultern.
Grinsend meinte ich dazu: „Das hab ich schon gern! Da werde ich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von meinem Unrund-Sein abgehalten und was passiert? Die Versprechungen stellen sich als leer heraus! Ich bin entsetzt!“
„Ich habe nie behauptet, etwas Anständiges zu essen zu Hause zu haben!“ verteidigte er sich und meine Augen verengten zu Schlitzen.
„Deine Worte waren, und ich zitiere: Ich biete eine Dachterrasse, gemütliche Möbel, wahlweise alkoholische und nicht-alkoholische Getränke und etwas zu essen“, knurrte ich gespielt böse.
„Ich habe nie gesagt `etwas Anständiges´!“ verteidigte er sich schnell.
Unwillkürlich musste ich kichern.
„Magst du Pizza?“
„Im Prinzip ja.“
„Gut, dann bestelle ich eine.“ Er fischte sein Handy aus der Hosentasche und drückte auf eine der Zifferntasten.
„Welche?“ fragte er, während er darauf wartete, dass sein Anruf entgegengenommen wurde. Der Pizzaservice auf der Schnellwahl; niemals nicht würde ich mich jemals wieder für meine Essensgewohnheiten kritisieren lassen! Jeder nach seiner Faccón!
„Am liebsten Quattro Formaggi.“
Er nickte und dann wurde dieses Telephonat auf Italienisch geführt. Sieh an! Ein Mann mit verborgenen Talenten. Wobei mir da gleich wieder die italienische Filiale einfiel. Die Landessprache zu können, war immer schon von Vorteil.
„Fünfzehn Minuten. Noch ein Bier?“ fragte er, nachdem er aufgelegt hatte.
Ich stand nur an den Türrahmen gelehnt, mit verschränkten Armen und sah ihn an. Mein Schweigen schien in zu verunsichern; gut so.
„Was?“ fragte er schließlich.
„Ja, bitte, ein weiteres Bier wäre schön.“
Mit einem kritischen Seitenblick auf mich wandte er sich wieder seinem Kühlschrank zu und fischte zwei Flaschen heraus. Nachdem er sie geöffnet und mir eine davon gereicht hatte, zog er die Augenbrauen in die Höhe. Jetzt war es an mir, die unsägliche Frage zu stellen: „Was?“
„Aus dir werde ich einfach nicht schlau.“
War das der Sinn der Übung? Wenn ja, hatte mich keiner eingeweiht.
„Warum ist das wichtig? Ach ja, bevor ich vergesse, darf ich dir das Geld für die Pizza vorerst schuldig bleiben? Ich hab kein Bargeld eingesteckt.“
Er gab ein Geräusch zwischen Lachen und Frustration von sich. „Siehst du? Genau das!“
„Genau was?“ Jetzt war ich verwirrt.
„Ich zahle die Pizza.“
„Und wann haben wir das ausgemacht?“
„Mehrheitsentscheid“, sagte er, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.
„Welche Mehrheit?“ Wir waren zu zweit, also ging sich hier entweder ein Patt oder eine Absolute aus, aber nichts dazwischen.
„Die Gewichtung bei dieser Abstimmung erfolgt nach Körpergewicht“, klärte er mich auf, „Somit hast du maximal 35% der Stimmen.“
„Männliche Logik. Zum Glück verstehe ich sie nicht, sonst hätte ich ununterbrochen Kopfschmerzen“, erwiderte ich trocken.
„Wie könnten auch nach dem Gewicht des Gehirns vorgehen“, schlug er zuckersüß vor.
„Das wäre ähnlich oberflächlich“, schlug ich ebenso zuckersüß zurück, „Da inzwischen schon jeder weiß, dass sich die Leistungsfähigkeit des Gehirns nach seiner Struktur richtet und nicht nach seiner Masse. Das leichteste Gehirn, gemessen am Durchschnitt, hatte übrigens Einstein.“