»Ganz bestimmt«, erwiderte Sophie, was Gin'Sah zu freuen schien, dann ließ er sie allein.
***
Das Bad besaß eine in den Boden eingelassene, steinerne Wanne, tief, jedoch nicht besonders groß, so dass man in ihr hocken musste. Das Wasser plätscherte reichlich, aber nur lauwarm aus einem Hahn – die kochend heiße Dusche, nach der Sophie sich gesehnt hatte, fiel damit aus. Die bereitgelegte Zahnbürste war aus Holz, die Zahnpasta verbarg sich in einem Döschen, die Seife roch nicht so blumig, wie Sophie es gewöhnt war, sondern herb nach Kräutern. Sie fand ein Fläschchen mit einem Öl, das sie statt einer Creme verwendete, und da nirgends ein Föhn zu sehen war, musste sie sich damit begnügen, ihre nassen Haare mit einem Kamm zurecht zu striegeln. Die Frisur, die das ergab, machte Sophie selbst nicht sehr glücklich, hätte ihre Mutter jedoch zweifelsohne wieder zum Weinen gebracht, begleitet von einem geschluchzten 'Ach Kind, was hast du nur getan?'
Das Kleid, das Gin'Sah ihr hingelegt hatte als Austausch gegen ihre muffigen Fabrik-Klamotten war hellblau, bodenlang, oben schmal und unten weit, mit einem runden Ausschnitt und engen Ärmeln bis zum Handgelenk. Um die Hüfte wurde eine Lederkordel geschlungen, die Schuhe waren braune Ballerina aus weichem Leder. Die Sachen passten ihr wie angegossen, und Sophie wusste nur zu gut, warum das so war: Sie hatten La'Isa gehört. Ja, sie hatte im Bett einer Toten geschlafen und trug ihre Kleider. Aber das war erträglich, wenn es der Preis dafür war, Lan'The wiederzusehen.
Nach dem Bad wartete in einem stillen Esszimmer mit einem Tisch und hochlehnigen Stühlen aus dunklem Holz ein Pfannkuchen auf Sophie, der bitter nach Vollkorn schmeckte. Dazu gab es Kompott und einen müsliartigen Brei, dem ein paar Löffel Zucker gut bekommen wären, sowie Milch. Als Sophie satt war und nur noch halbherzig getrocknete Obststücke aus dem Müsli pickte, ging irgendwo im Haus eine Tür und rasche Schritte eilten durch den Flur heran.
»Mutter, bist du hier?«
Der Junge, der in das Esszimmer trat, kam Sophie dumpf bekannt vor, und seine Frage half ihr, eins und eins zusammenzuzählen: Er war La'Isas Bruder, der in einer jüngeren Version zusammen mit den Eltern auf dem Bild in ihrem Zimmer abgebildet war. Jetzt mochte er etwa achtzehn sein, und seine Augen weiteten sich überrascht, als er Sophie erblickte. Im Gegensatz zu seiner Mutter fing er sich jedoch rasch und musterte Sophie, als wäre sie nun wirklich die Letzte, die er sehen wollte.
Er hatte kastanienbraune Haare, die wie bei Gin'Sah bis über die Schultern fielen, allerdings von einigen Wellen bewegt. Helle Haut mit Sommersprossen, tiefblaue Augen, kräftige Kieferknochen und ein Mund, der spöttisch wirkte – oder amüsierte er sich etwa über sie? Gutaussehend war er, befand Sophie nüchtern, als besähe sie sich das Foto eines Fremden in einer Zeitschrift, sehr sogar, auch wenn sein hochmütiger Gesichtsausdruck mit diesem hochgereckten Kinn das nicht gerade positiv unterstrich. Der Junge trug die hier übliche Gewandung in der gleichen Farbe wie Lan'The, diesem hellen Braun, und war mehr nur als ein Stück größer als Sophie. Seine Beine schienen da aufzuhören, wo sie im Ganzen endete: Kein Wunder, dass er so eingebildet war, von dieser Höhe konnte er auf alles und jeden herabsehen.
»Was ist deinem Haar geschehen?«, fragte La'Isas Bruder anstelle einer Begrüßung, Sophie fühlte sich überrumpelt.
»Wie bitte?«
»Deine Frisur, sie sieht abscheulich aus. Was ist damit geschehen?«
Ähnlich wie sein Vater sprach er das Englisch langsam, aber sehr korrekt – als beherrsche er es eher theoretisch als praktisch, als habe er es eher aus Büchern denn durch praktische Übung gelernt.
»Bist du Friseur, oder was?«, schnappte Sophie, weil ihr spontan nichts Besseres einfiel, woraufhin sich die Stirn des Jungen fragend furchte.
»Was ist ein Friseur?«, erkundigte er sich – in einem Tonfall, als sei es ihre Schuld, dass er das nicht wusste.
Sophie lächelte. »Nachdem du mich nach meiner Frisur gefragt hast und ich einen Friseur erwähnt habe, wird das wohl jemand sein, der Haare schneidet.«
Sie gab die Suche nach essbaren Bestandteilen in der Müsli-Matsche auf und schob die Schale auf den Tisch.
Der Junge schnaubte abfällig. »Jeder vermag Haare zu schneiden. Nur derjenige nicht, der deine geschnitten hat.«
»Gib mir eine Tube Gel, dann sieht das schon anders aus. Aber so was habt ihr hier ja nicht.«
»Eine was wovon?«
Sophie seufzte und schenkte dem Jungen unter hochgezogenen Augenbrauen einen Blick.
»Vergiss es, das verstehst du eh nicht. Hast du wenigstens das Wort 'Tube' schon mal gehört?«
»Nein.« Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust, Sophie triumphierte innerlich ein wenig: Sah aus, als würde sie Boden gutmachen.
»Gibt es in diesen Tuben vielleicht auch etwas, das den Schmutz aus deinem Haar entfernt?«, fragte er dann jedoch, was ihm Sophie zähneknirschend als einen Punkt anrechnen musste, während sie sich um einen absolut unbewegten Gesichtsausdruck bemühte.
»Das ist schwarze Farbe, kein Schmutz. Und das bleibt so.«
»Warum?«
Eine harmlose Frage, doch Sophie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Und das war mehr als nur ein weiterer Punkt für ihn, das war ihr Schachmatt. Seine veilchenfarbenen Augen weiteten sich für eine Sekunde: Er hatte die Röte bemerkt, und Sophie wurde wütend. Was hatte dieser Typ gegen sie? Er kannte sie nicht einmal!
»Vielleicht soll das genauso aussehen, wie es aussieht«, gab sie zurück, »schon mal daran gedacht?«
»Warum um alles in der Welt solltest du so aussehen wollen?«
Weil meine Haare der einzige Teil meines Körpers sind, den ich schmerzlos verstümmeln kann. Weil Schwarz die Farbe der Trauer ist. Weil ich hoffe, dass die Haare nachwachsen, dass mit den Löchern und der Farbe die Trauer verschwinden wird. Und damit mein Schmerz. All das hätte Sophie sagen können, aber es kam ihr nicht über die Lippen: Es war persönlich, ganz schrecklich persönlich, und es ging diese eingebildete Sommersprosse absolut nichts an.
»Leck mich«, gab sie zurück und warf den Löffel in das Müsli, was die Miene des Jungen noch mehr verfinsterte: Um Schimpfworte zu verstehen, schien sein Englisch zu reichen.
»Mundet es dir etwa nicht?«, erkundigte er sich in herausforderndem Tonfall, als hätte er das krümelige Zeug zusammengerührt.
»Nein. Es schmeckt wie Sand mit Quark.«
Er öffnete den Mund, zweifelsohne, um ihr entsprechend zu antworten, als Gin'Sah in die Küche trat.
»Ah, ihr habt euch schon kennen gelernt«, sagte der, und Sophie konnte der Gelegenheit nicht widerstehen, um dem Jungen noch einen mitzugeben. Auch wenn sie sich schon selbst zusammengereimt hatte, wer der Neuankömmling war.
»Nein«, antwortete sie, »haben wir nicht. Wer bist du eigentlich?«
Letzteres richtete sie in unschuldigem Tonfall direkt an den Jungen, der straffte sich.
»Na'Bao«, sagte er, mehr nicht. Sophie legte abwartend den Kopf schräg, der Junge presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Die Stille währte zehn, zwölf Sekunden, dann räusperte sich Gin'Sah vernehmlich.
»Ich bin Gin'Sahs und La'Shis Sohn, La'Isas Bruder«, ergänzte Na'Bao und vollführte unter den strengen Augen seines Vaters sichtlich widerwillig die steife Begrüßungsverbeugung, die Sophie schon von Gin'Sah kannte.
»Wo warst du?«, fragte Gin'Sah seinen Sohn, der nun scheinbar der Höflichkeit gegenüber Sophie genüge getan hatte. Na'Bao antwortete in der Sprache dieser anderen Welt und erntete Worte, die aus dem sonst so bedächtigen Mund Gin'Sahs ungewohnt scharf klangen. Der Junge erwiderte etwas in einem ähnlichen Tonfall und Sophie fand ihn mittlerweile unerträglich, unverschämt und arrogant.
»Wir brechen jetzt auf, du