Gin'Sah dachte über diese Frage nach.
»Nein, dieses Problem kennen wir nicht. Dabei liegt es eigentlich nahe, nicht wahr? Ihr werdet zuerst geboren, das macht uns zu Abbildern von euch. Aber es gibt so wenig Berührungspunkte der Welten, dass das im Leben der Menschen keine Rolle spielt. Weltengeher sind eine Ausnahme, es ist unser Beruf, zu euch zu kommen. Und ... ja, natürlich besucht jeder Weltengeher irgendwann auch einmal seinen Spiegel. Um zu sehen, was er tut, wie er ist.«
»Wo lebt denn deiner?«, erkundigte Sophie sich, »auch in England?«
»Ja.«
»Und was ist er von Beruf? Ebenfalls Beamter?«
»Nun, zunächst solltest du wissen, dass alle Menschen, die im Palast angestellt sind, Beamte geheißen werden. Ich bin der Weltengeher, aber auch der Heiler und Apotheker des Rates«, erklärte Gin'Sah, was für Sophie um einiges interessanter klang, dann lachte er leise. »Mein Spiegel in eurer Welt ist so etwas wie ein Künstler. Er lebt im Norden dieser Insel in einer Hütte an einem See und fertigt Skulpturen. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er gänzlich unbekleidet und bearbeitete mit der Axt einen Holzklotz, dem er den Namen seiner Frau gegeben hatte.«
Sophie musste grinsen – kaum in der Lage, sich den würdevollen Gin'Sah als verrückten Künstler vorzustellen.
»'Das letzte Mal'? Also hast du deinen Spiegel schon oft besucht«, schlussfolgerte sie, Gin'Sah nickte widerstrebend, als handele es sich um ein unfreiwilliges Geständnis.
»Ich kann das verstehen«, fuhr Sophie fort. »Wenn ich wüsste, dass es mich doppelt gibt ... Ich hätte versucht, sie zu sehen. Das ist völlig natürlich.«
Eine Bewegung zu ihrer Linken weckte Sophies Aufmerksamkeit: ein interessiertes Kopfwenden von Na'Bao, seine erste Reaktion auf dem ganzen Weg, hatte er doch den Rest des Gesprächs geschwiegen und sich durch nichts anmerken lassen, dass er überhaupt zuhörte. Er sah jedoch nicht Sophie an, sondern seinen Vater – als wäre er gespannt auf dessen Antwort.
»Ja, für junge, wissbegierige Menschen mag das natürlich sein. Den meisten hier erscheint eure gefährliche, schmutzige Welt jedoch als wenig lebenswerter Ort und ihr als keine erbauliche Gesellschaft«, erwiderte Gin'Sah. Na'Bao verzog den Mund, als wäre er enttäuscht über diese Worte, Sophie brauchte einige schweigend zurückgelegte Meter, bis sie verstand, was Gin'Sah damit über sie und ihre Welt gesagt hatte.
»Ihr haltet uns für dumm und ungesittet, euch für überlegen.«
Gin'Sah schüttelte daraufhin den Kopf, runzelte aber fragend die Stirn, als Sophie noch etwas murmelte.
»Verzeih, was sagtest du?«
Sie winkte ab. »Nichts Wichtiges. 'Morlocks und Eloi'.«
Gin'Sahs Stirnrunzeln vertiefte sich.
»Aus einem Buch, das wir in der Schule gelesen haben: 'Die Zeitmaschine' von H.G. Wells«, erklärte Sophie. »Darin gibt es eine hochentwickelte, schöne Art Menschen, die auf der Erde leben, und eine dreckige, fiese, hässliche Sorte, die im Untergrund haust.«
»Du hast ein Detail unerwähnt gelassen«, überraschte Na'Bao Sophie, nachdem er aufgelacht hatte, leise und wissend. Er hatte eigentlich eine angenehme Stimme, fand sie, wenn er nicht gerade herumkeifte. Was er meinte, war leicht zu erraten, aber Sophie kam nicht umhin, erstaunt zu sein: Woher kannte er dieses Buch?
»Die Morlocks fressen die Eloi«, ergänzte sie wiederstrebend. »Ich wollte damit aber nur sagen, dass ihr euch für besser haltet, uns für Monster.«
»So ist es nicht«, erwiderte Gin'Sah, und in seiner Stimme lag Gewissheit. »Na'Bao, du weißt das, Sophie, dir versichere ich es. Schau, unsere Welt ist nicht zuletzt deshalb so harmonisch, weil wir von euch zu lernen vermögen – eine Chance, die ihr nicht habt. Ihr müsst alle Fehler selbst machen, wir ziehen dagegen wertvolle Lehren aus den euren. Das ist auch die vornehmliche Aufgabe von uns Weltengehern: Nützliche Errungenschaften aus deiner Welt in unsere mitzubringen.«
Na'Bao gab ein ungläubiges Schnauben von sich, das Gin'Sahs Stimme schärfer machte, als er fortfuhr.
»Würden wir euch wirklich so gering schätzen, müssten wir jeglichen Kontakt meiden, aber das tun wir nicht. Doch stell dir vor, wir alle würden in deiner Welt herumstreunen, Dinge stehlen und unsere Spiegel beobachten. Was für ein Misstrauen ergäbe das! Du siehst: Es schützt uns beide, dass die Welten so wenig Berührungspunkte haben wie möglich.«
Während er das sagte, lagen seine Augen streng auf Na'Bao, dessen Gesicht nun wieder mürrisch wirkte. Sophie vernahm die indirekte Rüge mit Interesse – scheinbar hatte Na'Bao ein Hobby, das seinem Vater nicht gefiel. Das, was Gin'Sah als 'Herumstreunen' bezeichnet hatte? Wahrscheinlich.
Gin'Sahs kluge Augen huschten über Sophies Gesicht, als prüfe er, ob auch sie verstanden hatte. Scheinbar nicht zufrieden mit dem Ergebnis, wies er in eine Gasse, die vom breiteren Hauptweg abwich.
»Kommt hier entlang. Sophie, ich möchte dir jemanden zeigen. Eine Frau, von der die Weltengeher einst viel lernen konnten, die nun aber gefangen ist in ihrer eigenen Welt. Oder besser: in ihrer Sucht nach eurer.«
Sophie folgte ihm, sich nur zu bewusst, dass Gin'Sah ebenso Na'Bao angesprochen hatte wie sie.
»Die Frau, die wir besuchen, heißt Hil'Leh und zählt fast neunzig Jahre. Mittlerweile ist es auch das Alter, das sie schwächt, doch noch mehr leidet ihr Geist unter dem nicht zu überwindenden Drang, ihren Spiegel zu sehen und ihn für das zu hassen, was er ist. Du musst wissen, dass Hil'Leh schon jung zu Ruhm gelangte. Sie war die Weltengeherin des damaligen Rates und die beste, die es bis dahin gegeben hatte. Natürlich besuchte sie ihren Spiegel, und weil sich die beiden Bilder des Spiegels zumindest in ihrer Intelligenz gleichen, war sie zunächst darüber erfreut, dass ihr Abbild gleichfalls zu Ehren gelangte. Hier entlang.«
Gin'Sah ließ Sophie auf den Vorplatz eines Wohnhauses treten, in Aussehen und Größe vergleichbar mit seinem.
»Zunächst war Hil'Keh ihrem Spiegel voraus, denn sie hatte früher mehr erreicht. Und natürlich genoss sie den stummen Triumph, den Spiegel sehen und über ihn urteilen zu können, während er nichts von ihr wusste – gewiss ein Gefühl von Macht. Dann holte der Spiegel auf, doch Hil'Keh konnte das würdigen. Eine Frau, ebenso klug und stark wie sie selbst, warum sollte sie nicht ihren Weg gehen? Doch als der Erfolg des Spiegels größer und größer wurde, wandelte sich die Anerkennung in Angst. Davor, im Vergleich mit dem Spiegel kleiner zu sein, weniger geschafft zu haben. Ein Spiel zu verlieren, von dem der andere nicht einmal wusste, dass es gespielt wurde.«
Gin'Sah betätigte einen schlichten Metallring an der Tür, das Klopfen hallte kräftig durch die Gasse.
»Aus den gelegentlichen Besuchen wurden wöchentliche, dann tägliche, schließlich ging sie, wann immer sie konnte. 'Nur einen kurzen Blick', pflegte sie zu sagen und verschwand bald mehrfach in der Stunde. Verreiste ihr Spiegel und konnte sie ihm ob der großen Entfernungen nicht folgen, war sie voller Verzweiflung. Sie verlor jedes Interesse an ihrem eigenen Leben. Natürlich vernachlässigte sie ihre Pflichten, natürlich entließ man sie aus ihrer Stellung. Ab diesem Moment gab für sie nur noch ihren Spiegel – und die Frage, wann dessen Schicksal sich ebenfalls so wenden würde.«
Die Tür wurde geöffnet von einem schlanken Mann in etwa Gin'Sahs Alter. Er schien den Weltengeher zu kennen, denn die Begrüßungsverbeugung vollführte er mit einem freundlichen Lächeln. Gin'Sah sagte ein paar für Sophie unverständliche Sätze, der Mann maß Sophie mit prüfendem Blick, nickte dann Na'Bao zu als, würde er ihn kennen, und ließ sie ein.
»Hil'Leh ist heute eine Gefangene ihrer eigenen Neugierde«, fuhr Gin'Sah leise fort, während der Mann sie durch einen Flur bis zu einem Durchgang führte, »sie verlor ihren Geist über dem Zwang, diese zweite Version ihrer selbst zu sehen. Zu übertreffen. Zu beneiden, und schließlich zu hassen. Schau ihr zu: Wenn sie innehält und die Augen schließt, siehst du den Versuch, von dieser Welt in deine zu wandern. Sie vermag es nicht mehr, weil ihr