Sophies Augen begleiteten sie auf ihrem Weg und sie verspürte Mitleid mit der Frau, deren gebeugtem Körper trotz allem anzusehen war, dass sie einmal anders gewesen war. Aufrecht, klug, stolz und überlegen. Etwas in diesem Gesicht kam ihr bekannt vor, und als die Frau bei ihrer nächsten Kehrtwende die Lippen unter der schmalen, aber fast kühn geschwungenen Nase zusammenpresste, erkannte Sophie sie.
»Ich weiß, wer ihr Spiegel in unserer Welt ist. Sie heißt Margaret Thatcher und war Premierministerin.«
Gin'Sah lächelte und nickte, doch als er schon eine Geste zum Ausgang machte, zweifellos, um sie wieder hinaus auf die Straße zu geleiten, erklang eine kratzige, heisere Stimme: Die alte Frau war erwacht aus ihrem Trott. Die hellen Augen lagen auf Sophie, geweitet, erstaunt, fordernd.
»Du beherrscht die Sprache. Ihre Sprache. Du nennst den Namen. Ihren Namen. Kommst du von dort? Kennst du sie?«
Mit jede Satz wurde die Stimme kräftiger, mit jedem Satz kam die Frau näher. Langsam, aber zielgerichtet und mit scheinbar neu entdeckter Kraft.
»Sprich, Mädchen. Kennst du sie?«
Mittlerweile war die Frau so nah, dass der saure Geruch ihres zahnlosen Mundes Sophie umwehte. Und sie war unsicher: Sollte sie antworten? Durfte sie?
»Mädchen, sprich. Sprich!«
Die Alte streckte ihre zitternde, klauenartig abgemagerte Hand aus, als wolle sie nach Sophie greifen, diese machte einen Schritt zurück – und fühlte eine kräftige Hand an ihrem Arm, die sie zur Seite zog. Doch zu ihrer Überraschung gehörte die Hand nicht Gin'Sah, sondern Na'Bao.
»Nein, sie kennt sie nicht«, antwortete La'Isas Bruder für Sophie. »Aber sie hat Nachrichten aus der anderen Welt.«
»Ist das wahr?«
Sophie nickte, verwirrt von Na'Baos unerwarteter Hilfe wie auch unsicher darüber, was sie antworten sollte.
»Ja. Ich ... ich habe gelesen, sie sei krank. Sie hat vergessen, wer sie ist und erkennt selbst ihre Familie nicht mehr.«
Hil'Leh nickte. Und noch einmal, als habe sie erst mit Verzögerung verstanden, was Sophie gesagt hatte.
»Wie ich«, antwortete sie mit tastender Stimme. »Das ist nicht gut. Oder doch? Weil wir am Ende ein Schicksal teilen?« Sie schüttelte den Kopf, als wisse sie es nicht, dann lagen die hellen Augen wieder auf Sophie. »Weißt du mehr?«
»Nein. Tut mir leid.«
»Das muss es nicht, mein Kind, ich werde selbst nachsehen. Ja, einmal noch, nur ganz kurz.«
Hil'Leh lächelte, wandte sich um – und nahm die ewige Wanderung wieder auf, in der Sophie, Gin'Sah und Na'Bao sie vorgefunden hatten, als habe es diesen kleinen, wachen Moment nie gegeben.
***
»Ich verstehe, was du mir zeigen wolltest«, sagte Sophie, als sie mit Gin'Sah und Na'Bao kurz darauf wieder durch die sonnigen Gassen ging. »Es kann zur Besessenheit werden. Aber es geht nicht allen so, oder?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Gin'Sah, während Na'Bao sich erneut zurückfallen ließ, als gäbe es für ihn nichts interessantes zu hören. »Doch die Gefahr besteht. Ich brachte Na'Bao und La'Isa hierher, bevor ich anfing, sie den Übertritt zu lehren, denn dieses Schicksal prägt sich ein.«
»Also konnte La'Isa meine Welt wechseln?«, fragte Sophie, nun mit einem unwohlen Gefühl im Magen. Es mochte verführerisch oder auch verwirrend sein, in dieser Welt zu leben und eine andere besuchen zu können – aber wirklich unheimlich war es, wenn man in ihrer Welt steckte. In der Welt, die nichts über die andere wusste. Wenn man der war, der aus dem Schatten belauert wurde. Hatte La'Isa ihr zugesehen, wenn sie zur Schule gegangen, mit ihren Freundinnen in der Stadt herumgestreift oder mit Julian zusammen gewesen war? Sophie unterdrückte ein Frösteln: Bespitzelt von sich selbst – das war wirklich gruselig.
»Ja«, erwiderte Gin'Sah schlicht auf Sophies Frage. »Aber ich lehrte sie, verantwortungsbewusst damit umzugehen, und das nicht nur, um sie vor solch einem Schicksal zu bewahren. Das Weltengehen wird vom Rat streng kontrolliert, Übertritte sind nur mit Erlaubnis und unter Aufsicht gestattet. Vor allem, damit keine Dinge in diese Welt gelangen, die ihr schaden.«
»Was meinst du? Waffen? Drogen?«
»Ja. Aber auch schlechtes Gedankengut.«
»Wie ... Nazi-Zeug? Rassismus?«
»Ja. Die Menschen hier sind nicht schwerer zu verführen als ihr. Vielleicht noch leichter, fehlt ihnen doch jegliche Erfahrung mit solchen Dingen.«
Sophie, Gin'Sah und Na'Bao stiegen erneut eine Treppe hinab, passierten dann einen Torbogen, der eine Mauer durchquerte und von zwei Männern in enger, schwarzer Lederkluft bewacht wurde, bewaffnet mit langen Speeren. Ihre Augen unter enganliegenden Helmen musterten die Drei aufmerksam, ließen sie aber passieren. Hinter dem Tor veränderte sich das Bild der Stadt: Breitere Straßen und zusammenhängende Fassaden, in den meisten Häusern befanden sich Läden. Hölzerne Schilder prangten wie Wappen über den Türen, die Wege waren plötzlich gut gefüllt mit Leuten, die Körbe unter dem Arm trugen und scheinbar den täglichen Einkauf erledigten.
Sophie zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, während ihre Augen von links nach rechts schossen und alles registrierten: Die farbenfrohen Auslagen der Läden, lachende Kinder, die einen Reifen durch die Gasse trieben, ein kleiner Markt mit Ständen, die Gemüse, Obst und Blumen anboten. Verkauft von durchwegs Gelbgewandeten, die Gin'Sah auf Sophies Frage als Angehörige der Händlergilde identifizierte.
»Wenn ihr so selten wie möglich zu uns kommt, holt ihr auch nicht oft Menschen her, oder?«, griff Sophie den Gesprächsfaden wieder auf – mit gedämpfter Stimme, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen.
»Nein, aber nicht nur, um die Welten getrennt zu halten. Lebewesen sind schwierig zu transportieren – es ist, als würde sich die Seele sträuben, ihre Welt zu verlassen. Diese Kunst beherrscht keine Handvoll Menschen in dieser ganzen, großen Welt.«
»Also bin ich nicht die Erste, die ...«
Gin'Sah schüttelte sofort den Kopf. »Wie gern würde ich das sagen, aber es wäre falsch. Hil'Leh war die erste, der diese Kunst gelang, ich erlernte sie von ihr. Wir wählten Schlafende und brachten sie zurück, bevor sie erwachten. Wenn es dich freut: Du bist zwar nicht der erste Mensch aus eurer Welt, der unsere betritt, doch durchaus der Erste, der sie tatsächlich sieht und sich in ihr bewegt.«
Sophie nickte, und als sie kurz darauf an eine weitere Mauer mit schmalem Tordurchgang kamen, hielt die erhobene Hand einer Wache sie auf. Gin'Sah reichte dem Mann ein Blatt Papier, wies dabei auf Sophie und Na'Bao. Sophie musste ihre Kapuze zurückschlagen, Na'Baos Anblick löste eine kurze Diskussion aus, die ein Fingerzeig Gin'Sahs auf das Papier jedoch beendete. Man ließ sie passieren, und die Drei traten hinaus auf einen Platz, groß wie ein Fußballfeld: kreisrund, weitläufig, leer und von steinernen Stelen umgeben, die an Obelisken erinnert hätten, wenn sie nicht oben abgerundet gewesen wären. Ihnen gegenüber erhob sich das erste mehrstöckige Gebäude, das Sophie