Sophies Spiegel. Tina Sabalat. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tina Sabalat
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783847694595
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Finger durch meine Haut.

      »Warum ...« Sophie zögerte, fand den Einfall, der ihr gekommen war, schrecklich banal, sprach ihn aber doch aus, weil Lan'Thes Augen sie ermutigten. »Warum lasst ihr euch nicht mit Handschuhen begraben? Dann könntet ihr alles anfassen.«

      Lan'The lachte. Er warf den Kopf nach hinten, seine Brust hob und senkte sich in schnellem Rhythmus, ohne dass ein Laut aus seiner Kehle kam. Oder besser: Ohne dass ein Laut aus seiner Kehle kam, den Sophie hören konnte. Schallte da gerade ein Ton durch diese Welt, den nur Ohren vernehmen konnten, die aus diesem kühlen Nachtwind gemacht waren? Der kleine Schauder, der nun Sophies Rücken hochkroch, entstammte der Ahnung, dass sie es hier mit Dingen zu tun hatte, die sie niemals zur Gänze würde begreifen können.

       Eine gute Idee, aber wir sind schrecklich schwach. Ich vermag selbst mit umhüllten Fingern nur leichteste Gegenstände zu bewegen, eine Tür zu öffnen ist bereits unmöglich. Daher können wir nicht arbeiten, nichts zu dieser Welt beitragen. Und selbst wenn wir es könnten – ein Toter braucht kein Essen, kein Feuer und keine Kleidung, wozu sollte er arbeiten und den Lebenden ihr Brot nehmen?

      Sophies Augen hingen an seiner Hand, saugten jedes Wort, das er in dieses Heft schrieb, mit einer Wissbegierde auf, die sie lange nicht mehr verspürt hatte.

      »Erzähl weiter«, bat sie, als er stockte. »Erzähl mir, wie es ist, tot zu sein.«

      Er sah auf, mit einer Traurigkeit in seinen Augen, die Sophie ihre Frage bereuen ließ – und die in ihrer Eindringlichkeit schon Antwort genug war.

      »Entschuldige«, bat sie. »Aber für mich ist das hier völlig fremd, ich möchte nur verstehen, was du bist. Wie du dich fühlst.«

      Lan'The zögerte, nickte, schrieb weiter.

       Meine bloße Hand durchdringt alles, wäre ich nackt, könnte ich durch Wände gehen. Durch Mauern, Bäume, Steine. Nur auf der Erde kann ich laufen, egal auf welchem Belag und egal ob mit Schuhen oder ohne, so unlogisch das auch klingt. Doch dabei berühren meine Füße den Boden nicht – ich tue meine Schritte, dennoch machen meine Schuhe niemals einen Abdruck. Ja, so ist die Welt für einen Toten: Wie Sand, durch den du gehst, ohne ihn zu spüren und ohne eine noch so flüchtige Spur darin zu hinterlassen.

      Ein eingängiges Bild, das Mitleid in Sophies Brust ergoss, bis sie eine unerträgliche Enge im Hals verspürte und Zuflucht zu einer wiederum ganz banalen Frage nahm.

      »Bewegst du dich deshalb so schnell?«, erkundigte sie sich in Erinnerung an die Jagd durch die Gassen oder sein Zurückzucken eben, Lan'The nickte.

       Wir sind wie der Wind, so flink und leicht. Weil nur die Seele bleibt, mit dieser dünnen Silhouette und allem, was zu ihr gehört, wie Gefühlen, Sehnsüchten oder Angst.

      Eine Pause, in der er nachdachte.

      Tot zu sein bedeutet auch, zu vermissen, fuhr er dann fort. Meine Eltern. Freunde. Ich vermisse es, in die Schule zu gehen ... Ja, selbst das Lernen vermisse ich. Doch noch stärker sehne ich mich danach, zu essen oder zu trinken. Ich brauche ich nichts dergleichen, weil ich keinen Körper besitze, trotzdem fehlt es mir. Geschmack. Das Gefühl von etwas Süßem oder Saurem, Heißem oder Kaltem auf der Zunge.

      Er zögerte wieder kurz, schrieb dann aber mit Nachdruck weiter.

       Es gibt einige, die sagen, Tote seien auf das Wesentliche reduzierte Menschen. Ohne störende körperliche Bedürfnisse, nur Geist. Das mag so sein, doch wenn du vorher einen Körper hattest, ist dieser Nebelleib eine Qual. Nach meinem Erwachen bin ich mit dem Kopf gegen Mauern gerannt und habe meine Hände tief ins Feuer gehalten, nur um Schmerz zu empfinden. Vergeblich.

      Sophie wollte ihm mitfühlend eine Hand auf den Arm legen, hielt sich aber in letzter Sekunde zurück.

      »Und was tust du? Wenn du eigentlich nichts tun kannst?«

       Warten.

      »Auf was?«

       Auf den richtigen Tod. Auf ein Ende. Einen Neuanfang. Auf etwas, das anders ist als dieser Zustand, denn er ist unerträglich.

      »Das verstehe ich«, erwiderte Sophie, eigentlich nur so dahin und aus Freundlichkeit, doch dann merkte sie, dass sie es tatsächlich begriff. Weil es dazu nicht viel brauchte. Wie sehr hatte es ihr eben wehgetan, diesen Jungen, den sie für Julian gehalten hatte, nicht umarmen zu dürfen – und wie schlimm musste diese Sehnsucht erst für ihn sein? Ihm erging es mit allen so. Und schlimmer noch: Er würde nie wieder einen Herzschlag, die weiche Haut oder auch den festen, warmen und Halt gebenden Körper eines anderen spüren. Ja, Sophie verstand, warum es unerträglich war, und als sie erkannte, dass dieser Zustand für die Toten dieser Welt ewig andauerte, tanzten schwarze Punkte vor ihren Augen.

      »Was wollt ihr von mir? Ich bin wegen dieser Sache mit den Toten hier, nicht wahr?«, fragte sie, und bevor Lan'The darauf hatte antworten können, vernahm Sophie eine sanfte, freundliche Stimme, die sie mittlerweile kannte.

      »Wir hoffen, dass du unsere Tür zum Jenseits findest und öffnest«, antwortete ihr Gin'Sah.

      Sophie wand den Kopf: Er stand unter einem der Torbögen, ebenso aufrecht und stolz wie die Statuen, der Nachtwind zupfte an seinen hellblonden Haaren und dem im kalten Mondlicht womöglich noch weißer leuchtenden Stoff seines Gewandes.

      »Warum?«, stieß Sophie hervor, »was habe ich damit zu tun?«

      Gin'Sah kam mit geschmeidigen Schritten näher, kniete sich vor Sophie und sah ihr besorgt ins Gesicht. Er hob eine Hand, strich fürsorglich eine Haarsträhne aus ihrer Stirn – sie registrierte erleichtert die Wärme, die von dieser Hand ausging: Er war lebendig, wenigstens er!

      Gin'Sah ließ seine Finger eine Sekunde an Sophies Wange ruhen, als ahnte er, was ihr durch den Kopf geisterte.

      »Weil dein Spiegel in unserer Welt vor dir gestorben ist. La'Isa, meine Tochter«, sagte er. »Das ist äußerst selten, denn eure Welt birgt so viel mehr Gefahren.«

      »Ist sie auch ... so?«

      Sophies Stimme klang brüchig und Lan'The schlug die Augen nieder, als schäme er sich für seinen Zustand, was Sophie tief ins Herz schnitt, denn es war nicht seine Schuld. Es war Seans, aber er war ebenso tot, und somit gab es niemanden mehr, auf den sie ihre Wut schleudern konnte.

      »Entschuldige«, sagte Sophie und legte ihre Hand nun doch auf Lan'Thes Arm, der sich durch den Stoff so nachgiebig anfühlte wie ein mit wenig Luft gefüllter Ballon. »Ich kann das nicht in die richtigen Worte fassen.«

      Lan'The lächelte, Sophie musste erneut wegsehen, weil dieses Lächeln zu viel Julian enthielt.

      »Ist La'Isa ... hier?«

      Gin'Sah nickte. »Sie sind alle hier.«

      Sophies Augen irrten durch den nächtlich dunklen Garten, als würden weitere Tote hinter den Büschen lauern. Ihr Blick blieb an einer verschleierten Mädchengestalt mit gesenktem Haupt hängen – nur eine von vielen Statuen, aber mit diesem Wissen plötzlich so schrecklich bedeutsam.

      »Dies ist ein besonderer Ort«, erklärte Gin'Sah, dessen Aufmerksamkeit nichts zu entgehen schien. »Ein Garten der Begegnung, den Tote an ihrem Todestag aufsuchen und ihre lebenden Familienangehörigen treffen. Doch ich fürchte, ich habe mich falsch ausgedrückt: Ich wollte sagen, dass La'Isa noch in dieser Welt weilt, nicht, dass sie in der Nähe ist.«

      »Aber ich kann sie sehen?«

      Ein trauriger Schatten wanderte über Gin'Sahs Gesicht.

      »Sie zeigt sich uns nicht«, sagte er. »Ihr Tod war ein schrecklicher Unfall, es mag sein, dass sie wütend ist auf den Schuldigen. Auf mich.« Er nickte, als Sophie erschrocken erstarrte. »Ja, es war meine Schuld, und sie hätte allen Grund, mich nie wieder sehen zu wollen.« Er verstummte, lächelte dann. »Wer weiß? Wenn sie erfährt, dass du hier bist, zeigt sie sich vielleicht.«

      Gin'Sahs dunkle Augen versenkten sich in Sophies und sie fand nichts als Wohlwollen