»Also ist hier« – Sophie deutete wage auf den Garten und meinte damit doch ungleich mehr – »alles perfekt?«
Nein, nicht alles.
»Wegen dieser Sache mit dem fehlenden Jenseits«, schlussfolgerte Sophie und erntete ein entschiedenes Nicken.
Ja. Daran hängt viel. Mehr, als man auf den ersten Blick vermutet.
»Und ihr wisst nicht, warum eure Welt genau da anders ist.«
Nein, aber natürlich gibt es Theorien. Eine besagt, dass wir einstmals ein Jenseits hatten, jedoch vergaßen, wie man hineingelangt. Eine andere behauptet, es läge daran, dass ihr Religion habt, wir dagegen nicht. Dass das der Grund sein könnte, warum wir nicht so sterben wie ihr.
»Wieso habt ihr keine Religion?«
Sie birgt viele Gefahren. Erinnere dich an die unzähligen Kriege, die religiös begründet wurden. Die Kreuzzüge. Hexenverbrennungen oder die Inquisition.
»Du weißt viel von meiner Welt«, bemerkte Sophie.
Wir studieren euch.
»Unter dem Motto 'Wie man es nicht machen sollte'.«
Auf diese Bemerkung kam ein Nicken als Antwort, garniert mit einem entschuldigenden Lächeln, das Sophie die Seele aufriss: Das war hundert Prozent Julian! So hatte er immer gelächelt, wenn sie sich gestritten hatten und er so oft derjenige gewesen war, der als Erstes die weiße Fahne hisste.
»Okay, nochmal«, bat sie den Jungen. »Es gibt zwei Welten, ihr habt mich aus meiner mitgenommen in diese. Eure Welt besitzt kein Jenseits, aber niemand kann erklären, warum. Und da es euch fehlt, bist du hier, obwohl du tot bist. Während Julian aus meiner Welt verschwunden ist, weil wir ein Jenseits haben.«
Der Junge nickte bekräftigend, somit hatte Sophie zumindest die Fakten richtig zusammengebracht. Begriffen hatte sie das Ganze allerdings nicht wirklich, klang das alles doch zu absurd. Parallele Welten, so was gab es nur im Kino! Andere Kleidung, seltsame Frisuren und komische Häuser, das war noch lange keine Bestätigung dafür, dass er die Wahrheit sagte! Aber er muss das auch nicht beweisen, erkannte Sophie mit Schaudern: Dass sie ihn sehen konnte, war der nötige Beweis, denn in ihrer Welt wäre es unmöglich. Wenn er wirklich tot war, wie er behauptete, denn dafür war ein bisschen Blässe kein Beleg. Sophies Augen fuhren über sein Gesicht, seine Brust. Blinzelte er? Nein. Füllte er seine Lungen mit Luft? Nein. War er also tot? Vielleicht. Wahrscheinlich. Er sah aus wie Julian und war tot wie Julian – war aber nicht Julian.
»Wer bist du?«, erkundigte sie sich schlicht, was den Jungen lächeln ließ, als würde ihn diese Frage freuen.
Ich heiße Lan'The.
Sophie wartete auf mehr, doch der Stift bewegte sich nicht weiter. Aber das war keine Erklärung, nur ein fremd klingender Name. Sie warf dem Jungen einen fordernden Blick zu und deutete nachdrücklich auf das Heft.
Julian und ich sind Spiegel – so nennen wir das. Unsere Ähnlichkeit ist stärker als die von eineiigen Zwillingen, wir sind körperlich absolut identisch. Jeder von euch hat ein solches Abbild in dieser Welt. Wird in eurer Welt ein Mensch geboren, erscheint er auch hier. Und wenn einer von euch stirbt, stirbt sein Spiegel bei uns. Unsere Welten sind somit verknüpft, ohne euch gäbe es uns nicht.
»Du bist also gestorben, als Julian gestorben ist?«
Ja.
»Genau so? Bei einem Unfall?«
Es war zwei Uhr morgens gewesen, die Jungs hatten zu viert im Auto gesessen. Am Steuer Sean, der kaum eine Woche seinen Führerschein besaß und ebenso lang diesen viel zu schnellen Wagen fuhr. Ein Baum, ein Brand – drei Jungs tot, einer wie durch ein Wunder unversehrt. Doch Julian hatte zu den Toten gehört, Julian war von einem Augenblick auf den anderen nicht mehr da gewesen.
Sophie schüttelte die Erinnerung an das verkohlte, von den Blechscheren der Feuerwehr auseinandergerissene Wrack ab und konzentrierte sich auf Lan'Thes Antwort.
Wir brechen zusammen, wenn unser Spiegel stirbt. Wo immer wir gerade sind. Unser Herz hört auf zu schlagen.
»Einfach so? Ohne ... Vorwarnung?«, fragte Sophie, Lan'The nickte, dann huschte der Stift zum wiederholten Mal in raschem Tempo über das Papier.
Werden wir alt, können wir uns denken, dass der Tod näher kommt. Doch stirbt unser Spiegel durch ein Unglück, sehen wir das nicht kommen.
»Werdet ihr denn krank, wenn wir erkranken?«
Nein.
»Und falls hier jemand einen Unfall hat?«
Wir verfügen über eine bessere Konstitution. Manche sagen, wir würden gar nicht sterben, tätet ihr es nicht.
Sophie runzelte die Stirn. In diesen Worten schien ein gewisser Vorwurf zu liegen, obwohl Lan'The sie nach wie vor unbefangen ansah: Ihr seid schwach, ihr bringt alles Leid in diese Welt.
»Okay«, sagte sie, »ihr sterbt also, wenn euer Spiegel stirbt. Und dann?«
Wo sich bei euch Körper und Seele trennen, das eine zerfällt und das andere fortgeht, klammern sich unsere Seelen an ihre Körper. Aber sie vermögen nicht alles zu halten, nur eine hohle Silhouette. Die Lebenden nehmen Abschied von uns, dennoch bleiben wir in dieser Welt. Wir können uns zeigen, doch wir gehören nicht mehr zu dieser Gesellschaft.
Sophie starrte auf das Papier. Sie war erschöpft und hatte das Gefühl, dass ihr Gehirn viel zu langsam arbeitete: Sie sprach mit einem Toten, der irgendwie noch lebte. Der Julians Spiegel war, aber nicht Julian. In einer anderen Welt, am gleichen Ort.
»Was meinst du mit 'Silhouette'?«, fragte sie schließlich. »Du siehst doch ganz normal aus.«
Lan'The warf Sophie wieder einmal diesen prüfenden Blick zu, als wolle er abschätzen, was er ihr zumuten konnte. Dann hob er seine Hand, senkte sie auf die ihre hinab – und hindurch. Es fühlte sich an, als würde ein kühler Hauch über ihre Haut streichen und die kleinen Härchen aufrichten: Sophie schauderte und war trotzdem fasziniert. Die Hand sah doch so massiv aus, nach Fleisch und Blut und Knochen!
Sie hob ihre Finger an Lan'Thes Gesicht, hielt jedoch inne, als er zurückzuckte, schnell wie ein Wimpernschlag. Sie berührte schließlich erst den Stoff seines Umhangs, der sich absolut real anfühlte, hob dann neuerlich die Hand, fragend und zögernd. Lan'The nickte, schloss die Augen, und Sophie strich vorsichtig über seine Wange. Nein, nicht über, sondern durch seine Wange, denn sie spürte so gut wie keinen Widerstand, als ihre Hand durch ihn hindurchging, nur wieder diese leichte Kühle: Als hielte man die Hand aus dem Fenster, hinaus in den Nachtwind.
Gespenstisch, dachte Sophie, ein anderes Wort fiel ihr nicht ein: Es fühlte sich absolut gespenstisch an.
»Wie geht das?«, flüsterte sie. »Wie kannst du hier sitzen, in dieses Heft schreiben und trotzdem so ... sein?«
So neblig, so geisterhaft, hatte sie sagen wollen, doch das hätte sehr negativ geklungen, nach Gespenstern und Erscheinungen. Und dieser Junge hatte nichts von einer Spukgestalt an sich, er war ein Mensch. Nicht aus Fleisch und Blut, sondern in einem anderen Aggregatzustand. Wie Dampf ein anderer Zustand von Wasser war, ohne dass man ihn deswegen fürchten musste.
Wir können die Dinge anfassen oder benutzen, die uns ins Grab gegeben werden, wie Kleidung,