Sophies Spiegel. Tina Sabalat. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tina Sabalat
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783847694595
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ihre Fußsohlen brennen, als sie auf den rauen Steinplatten scharf in die Kurve ging. Diese Abbiegung, noch eine und noch eine, von einer menschenleeren Gasse in die nächste, die immer gleichen nachtschlafenden Häuschen links und rechts: Der Umhang flatterte wie ein Banner vor ihr im Wind, der Abstand wurde groß und größer.

      »Julian! Warte doch!«

      Sophie hörte selbst, wie bettelnd ihre Stimme klang, doch die Gestalt reagierte nicht: Sie lief und lief und lief, in einem unglaublichen Tempo, als flögen ihre Füße über den Boden, als gebe es kein Gewicht, keinen Körper, den es vorwärts zu tragen galt. Sophie fiel Meter um Meter zurück, obwohl sie so schnell rannte, wie sie konnte – und als sie um die nächste Ecke bog, war Julian verschwunden.

      Sophie eilte dennoch die Straße hinunter, spähte in die Gassen, die von ihr abgingen, wie auch in die Eingänge der Häuser. Und flüsterte dabei seinen Namen, als könnte sie Julian so hervorlocken. Vergeblich, verlassen und dunkel gähnten ihr Hauseingänge und Abzweigungen entgegen. Sie lief aus und presste sich eine Hand in die stechende Seite: verdammter Mist! Mist, Mist, Mist! Sie richtete sich auf, atmete tief ein – und gab einen kleinen, spitzen Schrei von sich, als eine Bewegung in ihrem Augenwinkel sie zusammenschrecken ließ. Sophie fuhr herum, und vor ihr stand Julian: Mit einem Gesicht, das nicht glühte von der Jagd, sondern noch immer so blass und kühl war, wie sie es in Erinnerung hatte. Aus dem Sarg, am Tag seiner Beerdigung. Ein Keuchen entrang sich ihrer Kehle, das sie selbst nicht einordnen konnte: Schrecken? Überraschung? Freude? Sie machte zwei, drei Schritte auf Julian zu, wollte ihm um den Hals fallen, ihn an sich drücken, sich davon überzeugen, dass sie nicht träumte, nicht völlig durchgeknallt war – doch er wich zurück. Rascher und geschmeidiger, als Sophie es jemals bei einem Menschen gesehen hatte, mit abwehrend erhobenen Armen.

      »Was zum ...«, setzte sie an, aber Julian legte einen Finger auf die Lippen. Sie verstummte. Dann bedeutete er ihr, sie möge ihm folgen, und wandte sich zu einem Gebäude rechts: eine Art Kreuzgang mit steinernen Statuen in Nischen, in der Mitte schlief ein Garten mit Blumenbeeten und müde plätscherndem Brunnen.

      Julian führte sie in die hinterste Ecke und hockte sich auf eine Bank, Sophie sank mit bebenden Gliedern neben ihn und konnte ihren Blick nicht von ihm wenden: Es war unglaublich, ihn wiederzusehen, ihn tatsächlich und leibhaftig vor sich zu haben. Nachdem sie vier Monate lang jeden Tag auf die wenigen Fotos gestarrt hatte, die sie von ihm besaß, und die doch nie die erhoffte Erinnerung an glückliche Tage brachten, sondern immer nur neue Tränen.

      »Wie kann das sein?«, wisperte sie jetzt mit einem aufgeregten Zittern in der Stimme. »Du bist doch tot! Ich hab dich gesehen, ich war auf deiner Beerdigung!«

      Julian antwortete nicht, aber seine klaren, grasgrünen Augen lagen auf ihr und schienen ebenso viel von Sophie aufnehmen zu wollen wie sie von ihm: Sie wanderten über ihr Gesicht, ihre verunstalteten Haare, die zu große Lederjacke und die schmale Jeans bis hinunter zu ihren bloßen Füßen. So hatte er sie auch angesehen, als sie sich in der Schule gegenseitig umgerannt hatten, beide hoffnungslos verspätet für die erste Stunde. Doch damals hatte ein Lächeln seine Miene erhellt, während er ihr aufgeholfen hatte, als würde ihm gefallen, was er da sah – heute blieb sein Gesicht leer. Aufmerksam, aber leer.

      »Es war ein Autounfall«, flüsterte Sophie weiter, obwohl das klang, als wolle sie Julian an seinen eigenen Tod erinnern, und daran, dass er unmöglich hier sein konnte. »Ich habe gesagt, du sollst nicht mit Sean nach Hause fahren, erinnerst du dich? Ich habe dich gewarnt!«

      Julian schwieg noch immer, Sophie griff nach seiner Hand – doch er riss sie weg, wiederum blitzschnell, bevor ihre Haut die seine berühren konnte.

      »Was hast du? Rede mit mir!«

      Verzweiflung in ihrer Stimme, denn mittlerweile verstand sie nichts mehr: Warum er weggelaufen war, warum er sie nicht umarmen wollte, warum er nicht sprach.

      Julian hob eine Hand in einer Geste, als bitte er um Geduld. An seinem Gürtel hing ein Beutel, wie ihn auch Gin'Sah gehabt hatte – aus diesem zog er einen Bleistift sowie ein Notizheft. Schlug es auf, schrieb etwas hinein und reichte es Sophie. Sie nahm es, sah auf die ordentliche Schrift, ohne den Sinn der Worte wahrzunehmen, dann wieder auf Julians Gesicht. Sein so unglaublich lebendiges, unglaublich reales Gesicht, das zu sehen sie nach wie vor völlig verstörte und die immer gleiche Frage durch ihren Kopf jagte: Wie war das möglich?

      Julian nickte nachdrücklich auf das Heft hinunter, Sophie drehte sich widerstrebend zum Licht und entzifferte das Geschriebene.

       Ich kann nicht mit dir sprechen. Und ich bin NICHT Julian.

      »Aber du siehst so aus wie er«, antwortete Sophie, erstaunt und trotzig. »Ganz genau so! Nur deine Haare sind länger, und ...«

      Sophies Augen wanderten über die sandfarbenen Strähnen, die ihm sonst so widerspenstig in die Stirn gefallen waren und die nun glatt und lang den Rücken hinunter fielen. Viel zu lang, um in vier Monaten gewachsen zu sein. War das ein Hinweis darauf, dass der Junge recht hatte, dass er wirklich nicht Julian war? Aber das Muttermal ... Ja, er hatte sogar diesen kleinen Leberfleck an der Schläfe, und so etwas gab es nicht zweimal, nicht einmal bei Zwillingen!

      Der Junge nahm ihr das Heft ab, kritzelte erneut einige Worte hinein.

       Ich sehe genau so aus, dennoch bin ich nicht er. Ich habe nur das Äußere mit ihm gemein. Bitte, glaube mir.

      Die Fragezeichen wuchsen. »Wenn du nicht Julian bist, dann ... kennst du mich gar nicht, oder?«, erkundigte sie sich zögerlich, und obwohl Sophie die Antwort ahnte, hoffte sie, dass sie anders lauten würde. Doch der Junge schüttelte wie erwartet den Kopf und machte aus ihrem Herzen einen schweren, schwarzen Klumpen.

      Ich sah dich nie zuvor. Ich weiß, dass du Julian geliebt hast, aber ich kenne dich nicht und ich habe keine Gefühle für dich. Er zögerte, ergänzte dann: Es tut mir leid.

      Nicht Julian. Keine Gefühle. Und es tat ihm leid. Sophie atmete tief ein, versuchte, sich in den Griff zu bekommen, diese bodenlose Enttäuschung herunter zu schlucken, die nach der unverhofften Wiedersehensfreude umso gnadenloser war. Und um ihren schwirrenden Kopf zu klären, denn wenn das hier nicht Julian war, war alles noch viel seltsamer!

      »Warum kannst du nicht reden?«, fragte Sophie den Jungen, und wenige Sekunden später las sie die Antwort in dem Heft.

       Ich vermag durchaus zu sprechen, aber nicht mit dir. Nur mit meinesgleichen.

      »Und wer sind deinesgleichen?«

      Er zögerte, warf Sophie einen prüfenden Blick zu, als wolle er abwägen, ob sie die Wahrheit vertragen könnte. Seine Augen versenkten sich in ihren und Sophie registrierte die selbst im matten Licht unverwechselbaren Goldpünktchen rund um die Pupille – ein weiterer Beweis gegen das, was er eben behauptet hatte. Das ist Julian, sagte alles in ihr, Kopf und Herz und Bauch, das ist doch Julian!

      Der Junge nickte schließlich, als habe Sophie die Prüfung bestanden, dann notierte er etwas. Ein Wort nur, aber mehr bedurfte es gar nicht, um Sophie erneut schwindeln zu lassen und aus der harmlosen Angst in ihrem Magen ein gefräßiges Ungeheuer zu machen.

       Tote.

      ***

      »Tote?!?«

      Seltsamerweise zweifelte Sophie keine Sekunde daran, dass wahr war, was er da sagte. Sie verspürte weder Unglauben noch Zweifel – und rückte trotzdem erschrocken ein Stück zur Seite. Das geschah ganz instinktiv, doch als die Augen des Jungen sich daraufhin sichtlich trübten, bereute sie das sofort: Es zeigte so deutlich nicht nur ihre Furcht, sondern noch stärker eine Abneigung, die sie indes gar nicht empfand.

      »Tut mir leid, du hast mich erschreckt. Du siehst nicht tot aus. Du bist zwar blass, doch das warst du ja ...«

      'Schon immer', hatte sie sagen wollen, verstummte aber. Das ist nicht Julian!, hämmerte sie sich in ihren Kopf und ahnte dabei, dass das vergeblich war, dass sie diesen Fehler wieder und wieder machen würde.

      »Du sagst also, du wärst nicht