Sie parkte ihren Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom Tor und beobachtete zunächst das Anwesen aus sicherer Distanz. Die Villa kam ihr irgendwie kleiner vor. Es war wohl die Außenbeleuchtung gewesen, die in der Nacht die Villa imposanter hatte erscheinen lassen. Im Tageslicht fehlte das Geheimnisvolle, das Verführerische. Aber vielleicht war es auch einfach nur für sie nicht mehr so verheißungsvoll, nachdem sie den Schleier einmal gelüftet hatte. Soweit sah alles ganz ruhig aus. Vestalia zögerte. Sich Gewissheit zu verschaffen, hieß, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während sie sich noch einen geeigneten Vorwand überlegte, sah sie zwei Männer aus der Villa kommen. Der Ältere war pummelig und trug einen beigen Anzug. Er gestikulierte wild mit den Händen und schüttelte den Kopf. Er wirkte verärgert, was den Mann, der vor ihm herging, wenig zu beeindrucken schien. Dieser zeichnete sich durch eine elegante Linie und eine vornehme Haltung aus. Der dunkle Anzug verlieh ihm Autorität, sein ruhiger und aufrechter Gang zeugte von Disziplin und Willensstärke. Die beiden gingen zum Parkplatz, und wie sie näher kamen, erkannte Vestalia ihn. Es war der Mann aus ihrer Vision: die dunklen, funkelnden Augen, die gerade Nase und die hohen Wangenknochen.
Sie wollte augenblicklich zu ihm eilen und ihm alles beichten. Sie fühlte sich ihm aus einem unerklärlichen Grund so nahe, aber sie traute ihrem Urteilsvermögen dann doch nicht so weit. Sie war geistesgegenwärtig genug zu erkennen, dass sie ihre Schuldgefühle nicht die Kontrolle über ihr Urteilsvermögen überlassen durfte. Welchen Einfluss auch immer dieser Mann auf ihr Schicksal haben würde, es würde sich sicherlich bald offenbaren. Und sie war darauf vorbereitet.
Entschlossen, der Versuchung zu widerstehen, drehte Vestalia den Zündschlüssel und startete den Motor. Als sie losfuhr, sah sie noch einmal zu ihm hinüber, und sah ihm direkt in die Augen.
11 Antonios Diamanten
Antonio hantierte gerade mit einem Hummer. Das Wasser auf dem Herd kochte bereits und über dem heißen Wasserdampf fing das Tier in seiner Hand an heftig zu zappeln. Als sein Schwanz mit dem kochenden Wasser in Berührung kam, schlug es wild um sich, in dem vergeblichen Versuch der brodelnden Hölle zu entkommen. Doch der Deckel, der sich über ihm schloss, war erbarmungslos. Carmines Magen verkrampfte sich bei diesem Anblick, aber er hütete sich davor, Antonio zu stören. Er marinierte noch die Fische, und wusch sich anschließend die Hände.
„Was ist das für eine Köchin, die Skrupel hat, einen Hummer zu kochen? Aber was soll ich machen? Sofia liebt sie. Francesca, du kannst jetzt weitermachen!“, rief Antonio nach der Köchin. Mit allem fertig, holte er zwei Gläser und eine Flasche Wein und umarmte Carmine zur Begrüßung.
„Und wir ziehen uns in den Garten zurück“
„Antonio!“ Carmine erwiderte die Geste.
Francesca kam herein und übernahm wieder die Küche. Er und Antonio gingen hinaus und ließen sich auf einer Sitzgruppe, versteckt zwischen dichten Blumensträuchern, nieder.
„Wie ich sehe, hast du sie.“
„Si“ Carmine reichte ihm den Koffer.
„Ich hoffe, du hast dich wenigstens ein bisschen ausruhen können. Viel Zeit dazu hattest du ja nicht, ich weiß.“ Antonio machte eine entschuldigende Geste.
„Claudio hat Vorrang“
„Ich danke dir, mein Freund!“
„Das ist doch selbstverständlich“
„Sind sie vollzählig?“, wandte sich Antonio wieder dem Geschäftlichen zu.
„Si“
Antonio legte den Koffer auf seinen Schoß und öffnete ihn. Er hob vorsichtig das samtene Tuch an und seine müden Augen erstrahlten wie die Steine vor ihm. Er nahm einen davon zwischen die Finger und hielt ihn ins Sonnenlicht. Das gleißende Funkeln des Diamanten zauberte Antonio ein Lächeln auf sein Gesicht.
„Ich gebe euch in gute Hände, ich verspreche es! Nicht in die schmierigen Finger von diesem hochmütigen Egozentriker.“
Er bewunderte die Steine noch ein wenig und entfloh für einen kurzen Augenblick der Trostlosigkeit seines Verlustes. Dann legte er sie wieder zurück in den Koffer und deckte sie behutsam zu.
„Bene!“, sagte er anerkennend. „Es war nicht besonders klug von Lombardo zu versuchen, sie zu stehlen. Ein Mann muss wissen, wann er geschlagen ist! Sein Vater hätte sich niemals auf so ein Niveau herabgelassen. Der Name Di Salvo stand früher für Ehre und Integrität. Lombardo wirft zwar mit diesen Begriffen um sich, weiß aber weniger darüber, als ich übers Ziegenmelken. Er beschmutzt mit seiner Gier das Heiligtum unserer Zunft. Er hat nie verstanden, was es bedeutet, dem Höheren zu dienen. Die Guten, sie gehen immer zu früh. Aber zumindest durfte Pietro vor seinem Sohn von dieser Welt gehen.“
Antonio füllte die Weingläser und reichte eines Carmine. Seine Hand zitterte und seine Augen füllten sich mit Tränen, doch er hielt sein Glas hoch erhoben.
„Salute!“
Carmine stieß mit ihm an und wartete, bis Antonio bereit war, den Bericht zu hören. Antonio nahm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich die Augenwinkel ab. Als er das Taschentuch wieder eingesteckt hatte, war der emotionale Moment vorüber und Antonio sprach wieder mit gewohnt fester Stimme.
„Was hast du bis jetzt?“
„Nichts, was über das Offensichtliche hinaus geht.“
„Und was denkst du?“
„Bislang deutet alles darauf hin, dass er Stefano nach dem Rauswurf noch gesehen hat. Und es ist ja nicht so, als ob Claudio sich unter Kontrolle gehabt hat, wenn er einen über den Durst getrunken hat.“
„Erzähl mir etwas was, was ich nicht weiß!“, herrschte Antonio ihn an. Er wurde ungeduldig. Carmine merke, dass Antonio etwas hören wollte, auf das er aufbauen konnte.
„Ich höre mich morgen weiter um. Mal sehen, was ich noch finde. Vielleicht hilft uns einer ihrer alten Freunde weiter. Danach wissen wir mehr. Hat sich Stefano mittlerweile gemeldet?“
„No, er hält sich bedeckt.“
„Kann ich mit ihm reden?“
„Heize die Situation nicht noch mehr an! Aus diesem Grund habe ich dich nicht geholt. Wenn es an der Zeit ist, werde ich mit Mario von Vater zu Vater reden.“
„Natürlich. Verzeih mir, Antonio!“
Carmine verbeugte sich als Geste der Entschuldigung. Er war erstaunt, dass Antonio in Bezug auf seinen Geschäftspartner empfindlicher reagierte als auf seinen eigenen Sohn.
„Halte mich auf dem Laufenden!“, war der ausdrückliche Befehl.
„Das werde ich!“
Antonio war fürs Erste besänftigt, obwohl unzufrieden. Er goss sich ein weiteres Glas ein.
„Du bleibst doch noch zum Essen, oder?“, fragte Antonio flüchtig. Carmine wusste, was von ihm erwartet wurde.
„Grazie, aber ich muss noch ins Präsidium.“
Im Auto löste sich seine Anspannung kaum. Carmine wusste, dass dem Kardinale der Stand seiner Ermittlungen unmittelbar zugetragen wurde. Die Informationssperre galt nicht für den Kardinale. Die Presse war ausgeschaltet worden, und so hatte man ihm den Freiraum geschaffen, das zu tun, was notwendig war. Es gehörte schließlich zu seinen Aufgaben, unangenehme Situationen zu bereinigen und für Antonios reines Gewissen zu sorgen. Die Interessen in dieser Angelegenheit gingen weit über einen