„Auf das Karma!“, prostete er Giuseppe zu.
„Auf das Karma!“, prostete Giuseppe heiter zurück.
Und als hätten diese Worte den Himmel herausgefordert, erscholl in der Ferne ein lauter Donner.
„Der Sturm kommt doch noch. Verflucht, jetzt muss ich die Tische reinholen!“
Giuseppe rief hastig seine Kellner zusammen.
„Los, beeilt euch, bevor hier die Hölle losbricht!“, trieb er sie an. „Sie entschuldigen mich, Signore?“
„Natürlich, machen Sie nur.“
Der Sturm kam schnell näher und Giuseppe musste mithelfen. Carmine hatte so eine Ahnung, dass sich Giuseppes Worte tatsächlich bewahrheiten könnten.
17 Das Amulett
Am Vatikan angekommen, musste Vestalia sich hinter einer Touristengruppe anstellen. Die Schlange schien endlos lang und es ging nur zäh voran. Sie übte sich in Geduld und schaffte es dann doch noch in die Museen. Zu ihrer Überraschung, überkam sie plötzlich eine heftige Woge der Wut. Während die Touristen um sie herum, in Ehrfurcht und Glückseligkeit schwelgend, durch die kunstvollen Räumlichkeiten und Säle schritten, fühlte sie eine immer stärker werdende Abscheu. Sie konnte sich nicht erklären, woher das kam, da sie bereits als Kind eine große Bewunderin der vatikanischen Kunstsammlung gewesen war. Nun erkannte sie jedoch, was jenseits dieser Herrlichkeit lauerte: Verderbtheit, Ruchlosigkeit, Wollust, Inzest, Völlerei, Maßlosigkeit, Hochmut, Habgier, Gottlosigkeit!
Die Hitze wurde unerträglich und Vestalia kramte in ihrer Handtasche nach dem Aqua-Spray. Etwas verfing sich zwischen ihren Fingern. Erstaunt holte sie es hervor. Es war ein Amulett mit dem Heiligenbild der Jungfrau Maria. Sie erschrak. Sie rief sich den Moment in Erinnerung, als Claudio über die Brüstung getaumelt war. In dem Gewirr von Händen, Armen und Kleidungsstücken, hatte sich plötzlich die Kette in ihren Fingern verfangen, wie jetzt auch. In der Hektik hatte sie gedacht, es wäre ihre eigene gewesen. Sie hatte sie nur in die Tasche geworfen und sie danach vollkommen vergessen, da sie ja ihre eigene immer noch um den Hals hatte.
Die aufgefädelten Rosenblätter aus dem Traum! - Vestalia umschloss krampfhaft das Amulett. Mit Blut besudelt, musste sie für die begangene Tat Buße tun. Aber sie brauchte Hilfe dabei. Und sie wusste genau, wen sie fragen konnte. Sie stürmte an den Horden von Pilgern vorbei und ließ die Hochburg des Glaubens und der Verderbtheit hinter sich. Sie rannte um ihr Leben, sie kämpfte um ihr Seelenheil.
Wie sich ihre Seele verfinsterte, verdunkelte sich der Tag, so schien es Vestalia. Es war bereits früh am Abend und das Licht begann zu verblassen. Sie suchte nach einem kleinen Brunnen, wo sie sich ein wenig abkühlen konnte. Ihre Füße waren geschwollen und es fiel ihr schwer, das Brennen weiter zu ignorieren. Sie stolperte mehr, als dass sie ging, und bei jedem Stolpern durchfuhr sie in den Füßen ein scharfer Schmerz. Sie schimpfte mit sich selbst. Hätte sie doch hartnäckiger versucht, ihr Auto freizubekommen. Aber sie hatte keine Lust gehabt, sich noch länger mit den Busfahrern, die ihr Auto zugeparkt hatten, rumzustreiten. Das hatte sie jetzt davon! Während sie durch die dunklen Gassen irrte, fing es an zu regnen. Der Boden wurde glitschig und sie rutschte immer wieder in ihren durchnässten Sandalen ab. Sie stützte sich mit der Hand an der Hauswand ab, um nicht hinzufallen. Sie musste kurz stehenbleiben. Sie hörte Musik und fröhliches Gelächter, das von irgendwo um die Ecke kam. Sie setzte ihren Weg fort, doch kaum tat sie einen Schritt, rutschte sie an einem spitzen Pflasterstein aus und knickste um. Sie hielt ihren schmerzenden Knöchel fest, bis das Pochen nachließ.
Ein leises Stöhnen. Vestalia horchte. Sie richtete sich vorsichtig auf und drückte sich dicht an die Hauswand, um im Schatten zu bleiben. Der Regen wurde stärker und in der Kuhle, in der sie stand, sammelte sich immer mehr Wasser an. Sie zog ihre Schuhe aus und wollte umkehren, um auf einem anderen Weg auf den Platz zu kommen, als ein Betrunkener in die Gasse einbog. Er kam ihr, sichtlich mit seinen mangelnden motorischen Fähigkeiten kämpfend, langsam näher. Sie wollte sich an ihm vorbeischleichen, doch dann erregte ein Funkeln ihre Aufmerksamkeit.
Der Mann konnte gar nicht so schnell reagieren. Sie stürzte sich auf ihn und drückte sein Gesicht in die Kuhle mit dem Wasser. Unfähig seine Gliedmaßen unter Kontrolle zu bringen, strampelte er hilflos wie ein Kleinkind. Er gab nur glucksende Laute von sich, als er versuchte zu schreien. Er versuchte seinen Kopf zu heben, doch Vestalia drückte ihn nur noch fester in die Pfütze. Sie kniete sich mit ihrem ganzen Gewicht auf seinen Rücken, um ihn besser am Boden zu halten. Er bäumte sich auf und versuchte sie von sich abzuwerfen, aber seine Hände fanden auf dem nassen Untergrund keinen Halt. Vestalia presste ihr Knie zwischen seine Schulterblätter. Blitze zuckten vor ihren Augen. Je panischer der Mann mit seinen Armen um sich schlug, umso schneller raste das Herz in ihrer Brust. Sie hatte Mühe ihn festzuhalten. Sie konnte vor Anstrengung nur stoßweise atmen. Die Muskeln in ihren Armen und Beinen fingen vor Anspannung an zu schmerzen. Der Mann rutschte unter ihr hin und her, dass sie beinahe von ihm heruntergefallen wäre. Ihr Knie glitt ab und stieß gegen seinen Nacken. Die Zuckungen hörten augenblicklich auf. Der Donner erscholl derart ohrenbetäubend über ihr, dass sie für einen Moment erstarrte.
Vestalia hielt ihre Position noch für eine Weile, um sicher zu gehen, dass der Mann nicht nur ohnmächtig war. Sie lauschte der Stille, die von ihm ausging. Selbst ihre eigenen Lebenszeichen nahm sie nicht mehr wahr. Sie spürte, wie ein Gefühl des Friedens sich in ihr ausbreitete, sie ausfüllte, sie befreite. Sie richtete sich auf und ließ den Regen über ihr Gesicht fließen. Sie spürte nicht mehr ihre schmerzenden Füße oder das unerträgliche Pochen in ihrer Brust. Keine ständig kreisenden Gedanken mehr, die sie in den Irrsinn trieben. Nur Frieden. Sie ließ los. Sie spürte das leichte Prickeln des Regens auf ihrer Haut. Sie schwebte zwischen den einzelnen Regentropfen, als sie zum Himmel hinaufsah. Sie tanzte. Sie tanzte hoch oben. Direkt über ihr erhellte plötzlich ein gewaltiger Blitz den ganzen Himmel und schleuderte sie aus den hohen Sphären wieder in diese kleine stinkende Gasse. Angewidert sah sie auf das verruchte Fleisch unter ihr und riss dem Toten die Kette vom Hals. Es war ein Amulett der Jungfrau Maria.
Erneut gleißendes Licht und tosender Donner, diesmal zeitgleich. Die Lichterketten am Platz sprühten elektrische Funken und die Menschen gerieten in Panik. Sie liefen durcheinander und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Auch für Vestalia war es Zeit zu gehen.
18 Stefano
Stefano saß am Fenstersims und blies Rauchringe hinaus. Er sah zu, wie sie sich ausbreiteten und immer dünner wurden, bis sie sich schließlich auflösten. Er fühlte sich in diesem kleinen Raum eingepfercht wie in einem Käfig. Wartete darauf, dass jemand kam, um ihm den Hals umzudrehen. Antonio konnte ihm so viel Schutz versichern wie er wollte! Er wusste, wenn Carmine auf jemanden angesetzt war, dann entkam derjenige ihm nicht. Was auch immer Carmine herauszufinden glaubte, letztendlich würde es ihn nur zu einer möglichen Konsequenz führen. Und er wollte sicherlich nicht hier sitzen und darauf warten, dass das Fallbeil auf ihn herabfiel. Wütend warf Stefano die Zigarette fort und schwang sich vom Fenstersims. Er musste etwas tun! Unschlüssig ging er im Zimmer auf und ab. Er nahm einen Schluck direkt aus der Flasche. Als das feurige Getränk seine Kehle hinabfloss, fühlte er sich für einen kurzen Augenblick erleichtert. Die Hände zitterten weniger, der Atem ging ruhiger. Er ließ sich auf den Stuhl fallen und sah auf den Inhalt seiner Hand. Als er sie aufmachte, hatten sich tiefe, kreisförmige Dellen in seine Handflächen eingedrückt. Er konnte noch so oft die Gebete wiederholen und um Vergebung bitten, der Scharfrichter zog unerbittlich um ihn seine Kreise. Und er fragte weder nach Reue, noch kannte er Vergebung. Stefano wusste, dass etwas hinter ihm her war, das keine Barmherzigkeit kannte.
Er versuchte dahinter zu kommen, was in jener Nacht geschehen war. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er kam auf keine plausible Erklärung. Er war zwar in der Vergangenheit kein unbescholtenes Blatt gewesen, aber einen Mord hätte er nie begangen, vor allem nicht an Claudio. Es waren einige Jahre vergangen, seit sie sich das letzte