„Vestalia, und ob notwendigerweise oder nicht, Sie bringen mich nicht in Verlegenheit.“
Sie führten eine angenehme Konversation, in dessen Verlauf Oppia versuchte sie einzuschätzen. Zu ihrer eigenen Überraschung, hatte Vestalia nicht das Bedürfnis sich zu verstellen. Sie unterhielten sich über ihre Erfahrungen als Geschäftsfrauen, Oppia zumindest soweit es ihre Position erlaubte. Sie zeigte sich herzlich und einfühlsam, als das Gespräch allmählich persönlicher wurde. Schließlich bot sie an, das Gespräch im sogenannten Spa-Bereich fortzusetzen. Vestalia wurde von dem Mädchen Severina in ein Zimmer geführt, wo ein seidener Bademantel auf dem Bett für sie bereit lag. Sie legte ihre Kleider ab und folgte dem Mädchen über den Balkon zu den Bädern.
Oppia erwartete sie bereits in einem duftenden Schaumbad. Ihre sanften Berührungen ließen Vestalia in eine Welt weit entfernt von der Realität abtauchen. Ihre geschmeidigen Finger glitten über die erhitzte Haut. Vestalia spürte, wie sich die Verspannungen nacheinander lösten. Auch ihre nervliche Anspannung wich von ihr - keine Erwartungen, die sie zu erfüllen hatte, kein Abdrängen in die typische Rolle der Frau. Sie ließ sich einfach fallen. Sie gab sich ganz ihren Sinnen hin. Wenn sie sich bewegte, war es nur aus ihrem eigenen Verlangen heraus.
Als sie sich einige Stunden später wieder anzog und das Haus verließ, tat sie es mit einem leisen Bedauern. Sie hatte sich hier behütet gefühlt. Alles war so warm gewesen und vertraut. Draußen fröstelte sie trotz der milden Morgenluft. Die Welt erschien ihr plötzlich kälter und bedrohlicher als zuvor. Und der Schmerz kam wieder zurück, sie fühlte sich verlassen.
Vestalia fuhr durch die Straßen in Gedanken bei Oppia. An der Brücke Ponte Sisto entschloss sie sich spontan zu einem kleinen Spaziergang am Fluss entlang. Sie musste ihren Kopf freikriegen. Wie konnte es sein, dass sie für jemanden, dem sie das erste Mal begegnet war, eine solch starke Zuneigung empfand? Woran lag es, dass sie sich Oppia so verbunden fühlte? Vestalia verlor sich in den Lichtspiegelungen des Tiber.
„Glühwürmchen, unglückseliges Glühwürmchen!“
Jemand packte sie am Arm und schleuderte sie herum. Überrascht sah Vestalia in Claudios Gesicht. Es war vor Wut verzerrt und er brüllte irgendetwas. Ihr Verstand konnte dieser Wendung gar nicht so schnell nachkommen. Seine Kleidung war verschmutzt und im Gesicht hatte er Schwellungen von einer Prügelei. Er kam ihr bedrohlich nahe und sie roch seinen nach Blut riechenden Atem. Sie wollte von der Brücke, doch Claudio stellte sich ihr in den Weg. Widerwillig hörte sie sich sein betrunkenes Gerede an. Er hatte sie im Bordell gesehen, und schien wenig begeistert darüber. Er wollte wissen, warum sie ihn verfolgte und von wem sie auf ihn angesetzt worden war.
Angewidert wandte sie sich von ihm ab. Er brüllte, er wäre noch nicht fertig mit ihr und hielt sie fest. In was für Schwierigkeiten er auch immer geraten war, ihre Toleranzgrenze hatte er eindeutig überschritten. Vestalia griff nach seinen Arm und verdrehte ihn so stark nach hinten, bis es im Schulterblatt knackste. Claudio schrie vor Schmerz und schlug nach ihr, aber jetzt war sie noch nicht mit ihm fertig. Er sollte leiden! Er sollte büßen! Er sollte bereuen! Leichter Schwindel überkam sie wie bei einem Rausch. Claudio fluchte, beschimpfte sie als Hure und wünschte sie zur Hölle.
Da geschah es.
„So ein unglückseliges Glühwürmchen“, flüsterte Vestalia ihm ins Ohr.
Sie stieß ihn so hart von sich, dass er das Gleichgewicht verlor und über die Brüstung taumelte. Er fiel rückwärts auf die steinerne Treppe, die zum Fluss hinabführte, und dann kopfüber direkt auf den darunterliegenden Gehweg.
Vestalia wartete ab, ob er sich wieder aufrichten würde, doch er rührte sich nicht mehr. Als er sich nach einigen Minuten immer noch nicht bewegte, stieg sie hinunter, um nachzusehen, wie schwer er verletzt war. Sie ging die Treppe hinab. Die Absätze ihrer Schuhe hallten auf den Stufen. Sie blieb stehen und lauschte. Es war still, viel zu still! Ihr verschmähter Verehrer lag bewusstlos am Boden. Nur das leise Rauschen des Flusses war zu hören. Unten angekommen, stupste sie ihn mit dem Fuß an - keine Regung. Sie versuchte es erneut, nur versetzte sie ihm diesmal einen leichten Tritt - wieder nichts. Zögerlich beugte sie sich zu ihm hinunter und fühlte seine Halsschlagader. Kein Puls. Sie drückte fester. Immer noch kein Puls! Ungläubig starrte sie auf den Leichnam vor ihr. Er hatte sich tatsächlich bei dem Sturz das Genick gebrochen! Ihr eigenes Herz begann heftig zu schlagen, wie um sie zu verhöhnen. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Eine Hitzewelle durchfuhr ihren ganzen Körper. Das Blut schoss ihr in den Kopf und ließ sie beinahe vornüber auf die Leiche fallen.
Es war kein Zufall gewesen, dass sie Claudio in dieser Nacht begegnet war. Er sollte sterben! Und er sollte durch ihre Hand sterben. Er war der Sünder, das unglückselige Glühwürmchen, das sie für die Gestalt aus ihrem Traum einsammeln sollte. Sie hatte es für einen Albtraum gehalten, eine Einbildung ihres überstrapazierten und übermüdeten Geistes. Sie hatte die letzten Monate ununterbrochen mit den Goldschmieden an der Herbstkollektion gearbeitet. Die Erschöpfung hatte sich in Form von Schlaflosigkeit und gesteigerter Gereiztheit geäußert. Es musste ein Traum sein. Das hier konnte nicht real sein! Aber der Windhauch, der um ihren erhitzten Nacken spielte, bewies ihr das Gegenteil.
Vestalia öffnete ihre Augen und zwang sich, Claudios Leiche anzusehen. Er war real, sie beide waren es. Vestalia überlegte fieberhaft. Sie konnte ihn unmöglich hier liegen lassen. Sie musste die Polizei rufen. Sie nahm das Smartphone aus ihrer Tasche und starrte auf das schwarze Display. Sie erinnerte sich an ihre Worte, mit denen sie ihn in der Bar abgewiesen hatte. Er hatte es sicherlich seinem Freund erzählt, und der Barmann hatte es auch gehört. Würde die Polizei, das hier tatsächlich als einen Unfall einstufen? Das Smartphone glitt ihr aus der Hand. Bilder von Blut auf ihrem Körper und unter ihren Füßen kamen ihr wieder ins Gedächtnis. Bringe mir die Sünder! – schrie es in ihrem Kopf. Mit einem Mal wurde sie ganz ruhig. Sie hörte auf zu zittern und konzentrierte sich. Sie musste eventuelle Spuren von ihr auf der Leiche beseitigen, so gut es ging.
Claudios Augen waren offen und starrten sie entgeistert an. Sie unterdrückte die Übelkeit, die bei diesem bizarren Anblick in ihr hochstieg. Sie schleifte den Leichnam zum Rand des Gehsteiges und hievte ihn vorsichtig in den Fluss. Zunächst schien es, als würde er auf der Stelle bleiben. Es dauerte einige Sekunden, bis die schwachen Wellen den toten Körper erfassten. Der Leichnam fing an sich zu bewegen. Vestalia fürchtete schon, dass er vielleicht doch noch lebte. Sie trat einen Schritt zurück, auch wenn sie wusste, dass es absurd war. Endlich erfasste ihn die Strömung und trug ihn fort. Die Wellen spielten mit seinen Armen und Beinen wie mit einer Puppe. Es war grotesk.
Wie sie Claudio nachsah, wurde sie allmählich müde und die innere Aufruhr wich einer grabähnliche Ruhe.
7 Carmine
Es fiel ihm schwer, seinen Oberkörper aufrecht zu halten. Er sank zunehmend tiefer in den Sitz. Nur noch zwei Kreuzungen bis er zu Hause war. Der Gedanke an seine Wohnung, und dann nichts als Schlafen in seinem großen, sauberen Bett, schwächte seinen Willen. Während er auf die Ampel starrte und darauf wartete, dass sie endlich umschaltete, fielen ihm langsam die Augen zu. Das rote Licht verwandelte sich in eine strahlend-rote Sonne, die ihn vollkommen einhüllte. Er schien auf ihren gleißenden Strahlen zu gleiten. Doch plötzlich waren sie unter ihm verschwunden und er fiel. Das Hupen der anderen Autofahrer riss ihn aus dem Traum. Er fuhr sich mit den Händen über die Augen und versuchte, sich auf die vor ihm liegende Straße zu konzentrieren. Vor seiner Wohnung endlich angekommen, zog er den Koffer unter dem Sitz hervor und beeilte sich, es außer Sichtweite zu bringen. Er lächelte erschöpft, als er vor seiner Wohnung stand. In schwarzen Buchstaben war auf dem goldenen Türschild eingraviert: Carmine Rubinieri - keine Zahlen oder Buchstaben, sondern sein Name.
Er öffnete die Tür und blickte auf den lichtdurchfluteten Raum mit den makellos weißen Wänden. Ein leichter, kaum wahrnehmbarer Duft von Lavendel lag in der Luft. Er hatte sich einer Familie