Wie mechanisch machte Siralen einen Schritt nach vorne. Ebenso wie Lucretia, Telos, Chara und Storn.
„… darunter der Kommandant des Bataillon D’Amur, Anduin Storn und die Kommandantin der Elfen Siralen Befendiku Issirimen Desin Suren Illju Kogena Senambra.“
Das war ihr Stichwort, wenn auch ein reichlich langes. Agem Ill schenkte Siralen einen respektvollen Blick, als er ihr die Hand reichte und ihr gratulierte. Ein Orden wurde ihr nicht umgehängt, worüber sie nicht unglücklich war. Sie gehörte ja auch nicht zum Kommando der Speerspitze.
Nachdem auch Anduin Storns Leistung mit einem Handschlag gewürdigt worden war, erklang erneut tosender Applaus, in den sich der eine oder andere eifrige Zuruf seitens Storns Bataillonskrieger mischte.
„Die Kommandanten der Speerspitze!“, kam Al’Jebal auf den Rest der Ehrengäste zu sprechen.
Siralen wandte sich um und sah, wie sich Lucretia nervös ihren Rock zurechtzupfte, den Kopf in den Nacken warf und zusammen mit Telos an die Seite des Allianzsprechers trat. Danach wurde es still und alle Augenpaare richteten sich auf Chara. Die Assassinin hatte sich nicht von der Stelle bewegt.
Al’Jebal drehte sich um. Die Flamme einer der Fackeln an der Rückwand knackte laut. Chara sah ihren Namai an. Der Namai musterte seine Assassinin. Schließlich zog Chara die Hände aus den Manteltaschen und bezog neben Telos Position. Sofort nahmen die beiden goygoischen Krieger sie in ihre Mitte und präsentierten demonstrativ ihre primitiven Stabkeulen.
„Telos Malakin, Oberhohepriester des Agramon“, setzte Al’Jebal ohne Umwege fort, „Schlächter von Urdhaven!“
Telos’ Gesicht blieb ohne erkennbare Regung, als er den Orden und den Applaus entgegennahm, der ihm von unterhalb der Bühne entgegendonnerte. Erst als sich die Stimmen seiner Glaubensanhänger aus der Menge erhoben und ihm zujubelten, erlaubte er sich ein bescheidenes Lächeln.
„Telos Malakin hat mehrfach bewiesen, dass er ein würdiger Vertreter Agramons ist“, warf Al’Jebal in die Menge. „Für seine Leistungen und seinen Einsatz im Kampf gegen Caeir Isahara, verleihe ich ihm den Titel Held der Allianz.“
Jetzt stand Telos der Stolz ins Gesicht geschrieben, und selbst Siralen freute sich für ihn, obwohl sie den Oberhohepriester kaum kannte. Dies hier war ein Zeremoniell, wie es den Menschen allzu eigen war. Und doch, die Euphorie und die Zuversicht, die alle Anwesenden ausstrahlten, mussten selbst das Herz einer Eisskulptur zum Schmelzen bringen. Allerdings stand die Freude in kaum einem der Elfengesichter zu lesen, und einen Lidschlag lang bedauerte Siralen diese Tatsache.
„Magus Secundus Minor Lucretia L’Incarto!“, fuhr Al’Jebal fort. „Sie hatte das Kommando über die Schlacht in Cunair Tarr. Ihre magischen Fähigkeiten ermöglichten es dem Allianzheer, die Tür nach Isahara zu öffnen. Sie ist der Schlüssel zu Caeir Aun’Isahara. Und eine Heldin der Allianz.“
Lucretias Wangen waren feuerrot, als sie unter allgemeinem Applaus von Agem Ill ihren Orden um den Hals gelegt bekam und sich neben Telos stellte.
Es wurde wieder still und die Blicke wanderten erneut zu Chara. In vielen der Gesichter zeichneten sich stumme Fragezeichen ab. Warum ist ausgerechnet eine Assassinin unter den Würdenträgern?
Einen Moment lang schien Charas steinerne Miene in Bewegung zu geraten. Doch das war ein Trugschluss, der wohl dem flackernden Licht der Fackeln und Feuerschalen geschuldet war.
„Chara Pasiphae-Opoulos!“, entließ Al’Jebal den Namen der Assassinin schnörkellos in die Menge und seine Hand wies kaum merklich in ihre Richtung. „Das Sandkorn auf der Schicksalswaage.“
Ein leises Raunen ertönte im Saal. Getuschel hob an, verebbte aber sofort wieder, als Al’Jebal fortsetzte: „Der Krieg gegen Caeir Isahara hat ihr die Namen Verteidigerin von Cunair Tarr und Todesverächterin eingebracht. Unter ihrem Kommando gelang es der Speerspitze, in die Festung Isahara einzudringen und dem Allianzheer auf diese Weise Zutritt zu verschaffen. Ihrer Entschlossenheit und ihrer Vorgehensweise ist es zu verdanken, dass eine uneinnehmbare Festung einnehmbar wurde. Auch ihr verleihe ich heute den Titel Heldin der Allianz.“
Der Applaus kam reichlich verhalten. Doch nach und nach wurde er lauter und am Ende war überdeutlich, dass es keine Rolle spielte, was Chara war. Es zählte nur noch, was sie geleistet hatte. Jedenfalls für den Augenblick.
Chara erhielt ihren Orden nicht von Agem Ill, sondern von Assef El’Chan. Als er ihr gegenübertrat und ihr das Allianzwappen um den Hals legte, ging ein stummer Blickwechsel zwischen den beiden vonstatten, den Siralen nicht deuten konnte. Es entging ihr allerdings nicht, dass Chara den Orden umgehend unter ihrem schwarzen Hemd verschwinden ließ.
„Der Krieg hat begonnen“, setzte Al’Jebal fort. „In den nächsten Tagen wird eine Flotte aus Tamang aufbrechen. Sie wird sich auf eine Expedition begeben, deren Ziel es ist, weitere Verbündete zu finden und den Sieg der Allianz in diesem Krieg zu sichern.“
Schlagartig wurde es unruhig unterhalb des Podiums. Expedition? Mit welchem Ziel? Hatte Al’Jebal nicht längst alle Winkel Amaleas nach Verbündeten abgesucht?
„Die Helden der Allianz werden diese Expedition anführen“, fuhr Al’Jebal fort und die Menge verstummte. „Wenn es ihnen gelingt, sie zum Erfolg zu führen, wird Amalea einer neuen Zukunft entgegenblicken können. Unser Schicksal liegt in ihren Händen. Während sie fort sind, werden wir kämpfen und auf ihre Widerkehr warten. Möge die Zukunft unter dem Zeichen der Allianz stehen!“
Noch während Siralen darüber nachdachte, wie wahrscheinlich es wohl war, dass sie den Großen Abgrund überwinden würden – eine Tatsache, die Al’Jebal wohlweislich verschwiegen hatte – nahm der Sprecher der Allianz sie und die anderen Helden ins Visier.
„Einer von uns sollte etwas sagen“, murmelte Lucretia aufgeregt. „Wie wäre es mit dir, Chara? Immerhin bist du das Sandkorn, was auch immer das heißen mag …“ Sie verstummte und ihr Ausdruck wurde demonstrativ, woraufhin auch Al’Jebal Chara fixierte.
Die Geste reichte, um die Assassinin in Bewegung zu versetzen. Sie trat zwischen Al’Jebal und Assef El’Chan an den Rand der Tribüne und taxierte die Gesichter in der Menge.
„Richtig … ich sollte etwas sagen. Immerhin bin ich jetzt eine Heldin“, begann sie und ein paar Matrosen beugten sich unwillkürlich nach vorne. „Ich glaube, ich habe euch noch nicht erzählt, dass man mich unter anderem auch Chaosbringerin nennt.“
Wieder schwoll ein Raunen an und finstere Blicke schossen in Richtung Bühne. Chara schien die Entrüstung regelrecht willkommen zu heißen. Aller Erwartung zum Trotz lag der Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen.
„Namen …“, setzte sie leise fort. „Sie sind so bedeutungslos wie ich und jeder einzelne der hier Anwesenden, der etwas bedeuten will. Wir sind nicht hier, um uns gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Wir sind nur aus einem Grund hier: Wir erfüllen einen Zweck. Und nur solange wir einen Zweck erfüllen, haben wir das Recht, überhaupt hier zu sein. Die kommende Expedition entscheidet alles. Jeder von euch, der mehr sein will als ein bloßer Name, hat jetzt die Gelegenheit, sich dieser Mission anzuschließen. Wir brauchen jeden einzelnen, der mit Mut und vor allem Rückgrat ausgestattet ist. Denn …“, sie trat noch einen Schritt nach vorne, „… scheitert diese Mission, wird Amalea untergehen.“
Die Mienen der Zuhörer reichten nun von Missachtung, über Besorgnis bis hin zu Neugier. Siralen spähte zu Al’Jebal. Der Begründer der Allianz hatte Chara im Blick, wirkte aber weder beunruhigt, noch zornig. Und doch hatte Chara gerade seine Rede in Frage gestellt. War ihr das bewusst? Sie sah nicht danach aus. Vielmehr vermittelte sie den Eindruck, als hätte sie sich gerade freigeredet. Als wäre sie für einen vergänglichen Augenblick nicht Al’Jebals Assassinin, sondern einfach nur Chara – eine Frau, die sagte, was