„Oberhohepriester Telos Malakin“, wandte Siralen sich dem Priester zu.
Telos ergriff ihre Hand. „Es freut mich, Euch persönlich kennen zu lernen, Siralen. Agramon hämmere Eure Feinde!“
Sie erwiderte sein Lächeln, spürte aber, dass es ihr Gesicht nicht entspannte. „Die Freude ist ganz bei mir. Ich habe viel von Euch gehört.“
„Nicht alles davon ist wahr.“ Die Narbe unter seinem Auge zuckte, und Siralen ertappte sich dabei, wie der Anblick sie faszinierte. „Und manches Wahre ganz und gar unglaublich“, erwiderte sie.
Telos Malakin sah aus wie ein Mann, der sich von allen Zweifeln befreit hatte. Andernfalls wäre es ihm vermutlich auch nicht gelungen, zum obersten Priester des Agramon in Al’Jebals Gebiet aufzusteigen. Und es war der Priester, nicht der Mann, den Telos überzeugend verkörperte.
Nachdem Siralen von Lucretia mit einem „Wie schön, dass Ihr hier seid!“ begrüßt worden war, trat ein letzter Mann durch den Gang auf sie zu. Es war Anduin Storn, Kommandant des Bataillon D’Amur.
„Na, alle wohlauf?“, fragte er, zupfte sich den Kragen seines Waffenrocks zurecht und linste über die Schultern der anderen durch die Doppelflügeltür.
„Alles bestens“, erwiderte Chara, die sich nur kurz zu ihm umdrehte und dann wieder nach vorne sah. „Bringen wir’s hinter uns.“
Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf das Podium am Ende des Teppichläufers. Siralen erkannte aus dem Augenwinkel, wie die Zwerge den Elfen alberne Gesten zuwarfen. Die Letzte der A’e’jil war bisher nicht zu sehen gewesen, was sie wenig betrüblich fand. Dafür erspähte sie jetzt einige Kidari-Krieger, die sich um ihren General Gaan El’Schiban gesammelt hatten.
Fanfaren ertönten. Die Menge verfiel in eine Art Spalierhaltung. Trommeln wurden laut und übertönten die Blasinstrumente. Ein tiefes, hallendes Donnern hob von den Seiten des Podiums an und rollte wie eine Sturmwand über die Köpfe der Menge hinweg. Der volle Klang von Hörnern mischte sich unter die Trommeln und der Saal wurde zu einem einzigen, gewaltigen Schallkörper. Im selben Augenblick flackerte das Feuer der Kandelaber über dem Eingangsbereich auf und tauchte sie in ein sattes Licht. Als hätte jemand einen Vorhang zurückgezogen, um dahinter die eigentliche Bühne zu präsentieren.
Die sonoren Stimmen eines Männerchors erhoben sich, und Siralen fühlte, wie die Musik sie ergriff und in einen seltsamen Sog zwang. Als ob die Schatten der Nacht vor einem neuen Morgen ihr Knie beugten … von Leid und Heil gleichermaßen erzählend, von Tod und Verderben, aber auch von einem siegreichen Kampf, von einer Reise ins Ungewisse. Die Hymne wurde in Echos von den Wänden zurückgeworfen und toste wie der Anfang vom Ende durch den Saal. Die Trommelschläge ließen Siralens Herz schneller schlagen, die tiefen Stimmen vibrierten wie Harfensaiten in ihrem Bauch.
Dies ist die letzte Etappe,
auf unserem Weg in den letzten Kampf.
Wir kämpfen gemeinsam,
doch heute sagen wir „Leb Wohl!“
Van de Drakeen setzte sich in Bewegung, und Siralen folgte ihm und den anderen den roten Teppichläufer entlang.
Mag sein, dass wir wiederkehren
in diese Welt, wer will es wissen?
Kann sein, dass niemand die Schuld daran trägt,
kann sein, dass wir Amalea vermissen,
doch heute werden wir gehen,
dem Wunsch zu bleiben widerstehen.
Wird es je wieder sein, wie es war?
Das Donnern der Trommeln dröhnte in Siralens Ohren, als ihre hallenden Schläge die Pause zur nächsten Strophe überbrückten. Sämtliche Augenpaare waren auf van de Drakeen und sie gerichtet. Da war Neugier in den meisten Gesichtern, aber auch Ehrfurcht, ein Hauch Melancholie und … Hoffnung. Der Auftritt der Spitze des Allianzheeres und seines Gefolges ließ die Menschen hoffen. Und während sie sich durch die Gasse bewegte, spürte auch sie den zaghaften Flügelschlag der Hoffnung in ihrer Brust.
Dies ist die letzte Etappe,
der letzte Kampf!
Wir sehen dem Abgrund entgegen,
und immer noch stehen wir aufrecht.
Kann sein, dass uns jemand da draußen erwartet,
kann sein, dass er uns willkommen heißt.
Über so viele Grenzen müssen wir gehen,
und so viele Dinge gilt’s zu entdecken.
Stets werden wir aufrecht stehen
und gewiss – wir werden euch alle vermissen.
Dies ist die letzte Etappe,
der letzte Kampf,
die letzte Etappe
Ohhh oh oh ohhh …
Es ist die letzte Etappe,
unser letzter Kampf.
Wir gehen gemeinsam
und wissen,
wir werden euch alle vermissen.
Eine Abfolge schwerer Trommelschläge kündete das Finale an und schien die Takte bis zum endgültigen Ende zu zählen. Mit dem letzten Donnern stiegen sie über die Treppe zum Podium hoch. Danach wurde es totenstill im Saal.
Al’Jebal betrat die Bühne. Zwischen seiner Rechten und Linken Hand, dem obersten Kommandanten der Landstreitkräfte Agem Ill und dem Schwarzen Assassinen Assef El’Chan, bewegte er sich ins Zentrum des Podiums und blieb unterhalb des Wappens der Allianz stehen. Die goldene Lilie unter dem aschranischen Letter A prangte, eingefasst von einem Kreis aus Dreiecken, die für die verbündeten Länder der Alliierten standen, wie ein Leitspruch über dem Sprecher der Allianz.
Nachdem sich Siralen zusammen mit den anderen hinter ihm und seinem Gefolge aufgebaut hatte, trat Al’Jebal nach vorne und blickte schweigend über die Menge. Als er endlich zu sprechen begann, schien es, als würde ein Aufatmen durch die Reihen gehen.
„Wir sind heute hier, um unseren ersten Sieg gegen das Chaosbündnis zu feiern“, bahnte sich seine tiefe Stimme einen Weg zum Publikum hinab. „In der Zerstörung Isaharas zeigt sich die Macht unserer Allianz. Einige haben in der Schlacht gegen das Chaos den entscheidenden Ausschlag gegeben. Neben dem Mut, dem Durchhaltevermögen und der außerordentlichen Kampfkraft des Allianzheers ist es vor allem ihnen zu verdanken, dass wir diesen Kampf gewinnen konnten.“
Eine Pause folgte, in der sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu unverhohlener Neugier emporschwang.
„Wir ehren heute jene, die zu Recht als Helden gelten.“
Auf ein Zeichen hin trat der General nach vorne und positionierte sich neben Agem Ill.
„Der General der Allianzarmee Araguari Hathor Göttrik van de Drakeen!“, kommentierte Al’Jebal und seine Hand schwang kaum merklich in Richtung des Kriegshelden. Unter tosendem Applaus schüttelte Agem Ill dem General die Hand und legte ihm einen Orden um den Hals, woraufhin lauter Jubel ausbrach.
Siralen versuchte einen Blick auf das goldene Medaillon zu erhaschen und erkannte auch dort das Allianzwappen.
„Meine Güte, wenn ich das gewusst hätte, ich hätte diesen Tag nicht überstanden“, murmelte Lucretia an ihrer Seite. „Den Mächten sei Dank, hat Al’Jebal uns nichts über den eigentlichen Grund dieser Feier gesagt.“
Siralen wusste nichts darauf zu sagen. Im Augenblick hatte sie selbst alle Hände voll damit zu tun, die Fassade des Gleichmuts zu wahren. Al’Jebal inszenierte hier offensichtlich eine Art Kulisse der Glorie, um einen unausweichlichen, beängstigenden