Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto. J. H. Praßl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: J. H. Praßl
Издательство: Bookwire
Серия: Chroniken von Chaos und Ordnung
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862826186
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      Eines Tages trat eine Motasali in mein Leben und sagte:

      Die Welt ist keine Scheibe,

      sie besitzt kein Oben und kein Unten,

      keinen linken oder rechten Rand,

      keine Seite, auf der es sich leben lässt,

      und keine, die den Tod bedeutet.

      Sie sagte:

      Die Welt ist eine Kugel,

      sie ist ein in sich geschlossenes Ganzes,

      kein Weg über ihr Rund führt an eine Grenze,

      keine Grenze in den Abgrund.

      Licht und Dunkel gibt es nicht.

      Chaos und Ordnung sind eins.

      In einer Welt wie dieser gibt es keine zwei Seiten:

      Es gibt nur ein Werden und Vergehen,

      den ewigen Wandel im Meer der Zeit.

      Die Frau deutete in den Himmel, und ich sah, wie die Sonne am Firmament schwarz wurde. Da lächelte sie und sagte:

      Keine Angst!

      Die Schwarze Sonne leuchtet dir,

      du findest ihr Licht im Schatten,

      und sie wirft ihren Schatten in dein Licht.

      Sie ist, was immer war und immer sein wird.

      Unter ihrem Banner sind wir heil und ganz.

      Dann zog sie ihre Waffe und ging dem Zeichen der Sonne entgegen.

      Und als ich verstand, dass ich ihr auf diesem Weg nicht folgen konnte,

      als ich mich von ihr und ihrer Sonne abwandte,

      um die Liebe zu finden,

      nach der ich ein Leben lang suchte,

      und um dem Tod zu entgehen,

      den ich ein Leben lang bekämpfte,

      fand ich in der Liebe den Tod.

      Amalea im Jahre 347 nach Gründung Fiorinde:

      Tausend und dreihundertfünfzig Jahre

      nach Beginn der Chaoszeit.

      Fünfhundert und siebzig Jahre

      nach dem Höhepunkt der Chaosherrschaft.

      Zweihundert Jahre

      nach der Vertreibung der Chaosmächte

      aus den Gebieten des Nordens, des Ostens,

      des Südens und des Westens.

      Die goldenen Zeiten sind vorüber. Die Anhänger des Chaos ziehen in den Krieg, um die Weltordnung zu zerstören und die Herrschaft über Amalea an sich zu reißen. Das dunkle Zeitalter kehrt zurück.

      Moravod existiert nicht mehr. Der einstige Prophet Togh Levas und jetzige Chaosgott Hakkinen Dragati hat mit seinen neuen Anhängern das Land nördlich des Jenisvoi im Blitzkrieg erobert und zu Dragatistan gemacht. Die Dragatisten, die sich dem Chaos verschworen haben, werden zur neutralen Partei zwischen der Allianz und dem Chaosbündnis.

      In Erainn sorgt der Fall Caeir Isaharas für große Verwirrung unter den Fürsten und innerhalb der Bevölkerung des Landes. Die einhunderttausend Mann starke Armee unbekannter Herkunft, unter deren Ansturm eine der mächtigsten Festungen Amaleas fiel, zieht eine Flut an dunklen Gerüchten und wilden Prophezeiungen nach sich. Die Einwohner beginnen zu begreifen, dass das Chaos und seine Anhänger zurückgekehrt sind.

      Im zentralen Gebirge Aschrans, Gebiet Al’Jebals, bereitet sich die Allianz in ihrem Hauptstützpunkt Tamang auf die größte Expedition vor, die weltweit je durchgeführt wurde. Während die Kommandanten der Expedition die letzten Vorkehrungen treffen, um mit der Allianzflotte den Großen Abgrund zu überwinden, rüsten die Truppen der Allianzarmee für den Krieg gegen das Chaosbündnis.

      Die Helden der Allianz

      Ich will, dass euch klar ist, dass es ab heute kein Zurück mehr gibt. Ich will, dass ihr wisst, dass ihr von jetzt an auf euch gestellt sein werdet. Alles, was ihr bei mir gelernt habt, habt ihr für diese Mission gelernt. Alles, was ihr in meinem Namen vollbracht habt, hat euch hierher geführt.

      Die Zeit drängt. Ihr steht vor einer Entscheidung. Entscheidet euch!

      Siralen Befendiku Issirimen hatte sich entschieden. Warum, das war ihr selbst nicht ganz klar. Aber das Ja war da. Es war ihr über die Lippen gesprungen wie ein Tautropfen von der Spitze eines vom Wind gepeitschten Grashalms.

      Al’Jebals Geheimnisse waren derer viele. Einige davon hatte er ihnen vor zwei Tagen anvertraut. Nachdem er sie vor die Wahl gestellt hatte: „Seid ihr mit an Bord?“ Das war in etwa der Inhalt seiner Frage, wenn er sie auch ganz anders formuliert hatte. Sie würden nicht nur sprichwörtlich an Bord gehen. Im Auftrag der Allianz. Für die Zukunft Amaleas …

      Eines der Geheimnisse, die der Sprecher der Allianz ihnen anvertraut hatte, war, dass die Welt keine echte Grenze hatte. Oder dass es zumindest eine Möglichkeit gab, diese zu überwinden. Der Große Abgrund … Wenn man sich über eine Weltgrenze hinwegsetzen konnte, was erwartete einen danach? Neue Welten …

      Siralen stand halb angekleidet in ihrer Unterkunft in einem der zentralen Sektoren Tamangs. Redlich bemüht, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, fingerte sie an den Nesteln der Kleiderärmel herum. Doch der Kopf wollte einfach nicht bei der Sache bleiben, und die Finger zitterten in beschämender Ziellosigkeit über die schmalen Bänder am Saum.

      Verständlich, dass ihr Inneres in Unordnung geraten war. Was sie vor zwei Tagen erfahren hatte, war kaum mit ihrem bisherigen Weltbild in Einklang zu bringen. Sie musste alles neu überdenken. Und sie fragte sich, wohin sie in all den Jahrzehnten ihres bisherigen Lebens geblickt hatte, dass ihr all dies entgehen konnte. Wusste der Elfenrat Bescheid? Was war eine Lüge und was die echte, gehaltvolle Wahrheit?

      Endlich saßen die letzten Bänder und sie konnte ihre Schultern entspannen. Hingebungsvoll massierte sie sich den Nacken und trat vor den Spiegel. Eine Seltenheit. Der Spiegel war groß und sein ovaler hölzerner Rahmen mit außergewöhnlich kunstvollen Schnitzereien geschmückt. Eindeutig nicht von Elfenhand und dennoch erstaunlich.

      Siralens Spiegelbild schob sich in ihr Blickfeld – ein Gesicht, das ihr verblüfft entgegenlächelte. Was sie sah, gefiel ihr. In diesem Kleid schien alles am rechten Platz zu sein. Es war wie für sie gemacht – schlicht, von zartem, ihre Augen zum Leuchten bringendem Blauton und in einem Guss an ihren schlanken Beinen hinabfließend. Warum hatte sie es nicht schon eher getragen?

      Natürlich. Sie hatte das Kleid vor langer Zeit weggeschlossen; weggeschlossen wie die Erinnerung an ihre Mutter, die es an sie weitergegeben hatte; weggeschlossen wie die Erinnerung an den Vater, der die Mutter mehr geliebt hatte als sein eigenes Volk. Aber jetzt, jetzt fühlte sich der seidige Stoff gut auf ihrer Haut an.

      Sachte fuhr sie sich durch ihr silbernes Haar und begann, die Strähnen zu einem strengen Zopf zu flechten. Oh Aflih! Wo bin ich da nur hineingeraten?

      So ungern sie sich an ihre Eltern erinnerte, so gerne dachte sie an ihre Großmutter. Lenyanemara hatte sie mit aller nur denkbaren Weisheit auf dieses Leben vorbereitet – ein Leben, das manchmal der Weisheit gleichgültig gegenüberstand und häufig tat, was es wollte, ohne an die Konsequenzen zu denken.

      „Der Weg einer Kriegerin ist stets von Licht und Schatten begleitet“, hatte Großmutter ihr an jenem Tag nahegebracht, als sie ihre Ausbildung zur Kriegerin antrat. „Das Licht fällt auf den, der Leben rettet, der Schatten auf den, der Leben zerstört. Ein Krieger wird stets beides verkörpern. Vergiss das nie, Ana!“

      Siralen hatte es nicht vergessen. Trotzdem hatte sie sich zur Kriegerin ausbilden lassen. Weder Großmutter, noch sonst jemand hätte sie davon abbringen können.