Wenn der Alte vom Berg die Indizien, die er gesammelt hatte, für ausreichend befand, um eine Welt hinter den bekannten Grenzen Amaleas anzunehmen, musste seinem Ruf gefolgt werden. Die Allianz brauchte Verbündete. Und Al’Jebal war der Erste gewesen, der die Unabhängigkeit der Elfen und den Staat Albion anerkannt hatte. Er war einer der ältesten Freunde der Elfen und ihrem Volk mehr als einmal zu Hilfe gekommen. Egal, was da draußen über ihn geredet wurde, egal, was jenseits der Grenzen Amaleas lauerte, innerhalb lauerte das Chaos und die Allianz war gegründet worden, um es zu bekämpfen.
Siralen zog die Finger aus ihrem Haar. Weg mit den Gedanken an Tod und Chaos! Heute war kein Tag, um sich in düsteren Visionen zu verlieren, heute war ein Tag des Feierns und der Freude.
Ein letztes Mal betrachtete sie sich im Spiegel, blickte in die kühlen blauen Augen, die ernst zurückblickten, strich sich behutsam ein paar lose Strähnen an den Schläfen nach hinten und band sich den Gürtel mit dem schmalen Dolch um die Hüften.
Als sie die Tür hinter sich schloss, trat ihr ein aschranischer Wachmann entgegen.
„Said Ihr berait?“, fragte er und Siralen nickte.
„Dann folgt mir.“
Der rote Teppichläufer, der eine zweihundertfünfzig Schritt lange Bresche in das Gewirr aus Menschen, Elfen und Zwergen schlug, erschien ihr wie ein Signal voranzuschreiten. Weiter, immer weiter, ohne einen Blick zurück …
Unzählige Öllampen und Feuerschalen hingen an schweren Ketten von der Decke und tauchten den Weg zum Podium in ein sattes, warmes Licht. Nur im Eingangsbereich herrschte Dunkelheit.
Die Empfangshalle war von breiten Säulengängen flankiert. Und wäre der Saal nicht brechend voll gewesen, Siralen hätte sich seltsam seelenlos in diesem nackten, gigantischen Gemäuer gefühlt.
Sie stand im Rahmen der Doppelflügeltür und verschmolz mit dem Schatten im Eingangsbereich. Der Anblick der schwarzen Silhouetten auf den beleuchteten Balustraden in schwindelerregenden Höhen war wie ein Fausthieb in den Magen. Dort standen sie – jede Menge Orks in den Galauniformen der Allianz. Verbündete … und doch waren die Kreaturen, die sich vor langer Zeit Al’Jebal angeschlossen hatten, den Elfen nach wie vor ein Dorn im Auge, und das würden sie vermutlich immer sein.
Fatujen! Sie selbst hatte erst kürzlich am Pass Cunair Tarr gegen Orks gekämpft, wenn diese auch der Chaosseite angehört hatten. Und sie war nur einen Wimpernschlag davon entfernt gewesen, im Alleinen des Weltgeistes aufzugehen – sie und auch all die anderen Krieger der Allianzarmee, die an diesem Abend so zahlreich vertreten waren, dass sie die restlichen Gäste in den Schatten stellten.
Unter ihnen waren auch die Priester, die gemeinsam mit den Elfen die erste, schicksalsschwere Schlacht in Erainn geschlagen hatten. Siralen erkannte einige von ihnen an ihren langen Roben und fein gearbeiteten Togen. Ihre Gewänder wetteiferten mit den schmucken Festtagskleidern der Handwerker, die sich unter die Gäste gemischt hatten. Die farbenfrohen Symbole der Zünfte lockerten das zeremonielle Ambiente auf, das die Priester mit ihren prächtigen Emblemen verbreiteten. Die Schlageisen der Steinmetze spielten mit den roten Kriegshämmern des Gottes Agramon, die Hobel der Tischler duellierten sich mit Issisas Kralle, das Feuer der Schmiedeessen flackerte munter zwischen den eisblauen Wappen Monochs. Der Tod wäre erfreut, Euch zu sehen …
Ein Schauer durchzuckte Siralen. Den Gedanken an die Priesterschaft über Tod und Eis abschüttelnd, suchte sie nach den Vertretern ihres Volks. Der kleine Anteil der nichtmenschlichen Rassen ging in der Menge des kurzlebigen Volks nahezu unter, was wenig überraschend war. Doch Siralen erspähte Ihresgleichen dennoch. Die Elfen hatten sich dezent von dem kleinen, korpulenten Volk der Zwerge distanziert. Sie standen auf der gegenüberliegenden Seite des Teppichläufers – zwischen ihnen der breite, reißende Fluss unvereinbarer Gesinnungen.
Ein schwacher Vorbote von Heimweh erfasste Siralen und sie riss sich vom Anblick ihrer Brüder und Schwestern los. Vieles war hier nicht so, wie es sein sollte. Orks und Zwerge waren eine Sache. Mit ihrer Gegenwart in den Reihen der Allianz hatten sich die Elfen halbwegs arrangiert. Mit den Vertretern der Schattenwelt hingegen …
Wer dem Alleinen widersteht, ist aus dem Weltgeist gefallen. Was nicht im Weltgeist ist, ist im Nichts. Und was im Nichts ist, darf nicht sein.
Würde Al’Jebal dieses elfische Gesetz brechen? Würde er es wagen, einen MacDragul zu den Feierlichkeiten zu laden? Auf der Suche nach dem Wappen, das den ihren so verhasst war, fand Siralen jede Menge anderer Embleme, viele davon mittlerweile so vertraut wie der silberne Baum Albions. Da waren die Lilie der MacArgyll und die rote Rose der MacGythrun aus Alba, das Kriegsbeil des Schlachtenstürmers Höggningar, die roten Längsstreifen auf weißem Tuch, die das Wappen der Aeglier kennzeichnete. Sie fand den schwarzen Bären Moravods, die gekreuzten Säbel auf weißem Tuch der Tegoner und natürlich Al’Jebals Emblem – den silbernen Fünfzackstern. Aber keine drei Silberblumen auf blutrotem Grund, über welchen ein schwarzer Adler vor goldenem Firmament thronte. Kein Zeichen jenes albischen Clans, der bis heute noch aus jeder Schlacht als Sieger hervorgegangen war und den Toten so viel näher stand als den Lebenden. Gut so.
Schritte erklangen im Gang hinter ihr und Siralen drehte sich um. Helolilejen! Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. General Göttrik van de Drakeen schritt im Gefolge zweier Frauen und eines Mannes auf den Eingang zu. Damit wusste Siralen, wo ihr Platz war. Sie begrüßte den General mit einem respektvollen „Tin salu ecra“, trat aus dem Türrahmen und machte den Weg frei. Dann schloss sie sich den beiden Gestalten an, die sich im Rücken des Vollblutkriegers eingefunden hatten und sich wie Schatten und Licht um eine Dissonanz aus sattem Grün schlossen.
Die Dissonanz hieß Lucretia L’Incarto und war wie gewohnt in stilvolle Seide gekleidet. Ihre roten Locken hatte sie zu einem festen Knoten am Hinterkopf gewunden, wobei ihr zwei Strähnen in sanften Wellen auf die nackten Schultern fielen. Es hätte ihrem sinnlichen Gesicht geschmeichelt, wäre da nicht diese entsetzliche Narbe gewesen, die sich wie ein zweites, blutrünstiges Lächeln über ihre Wangen zog. Doch angesichts des Mannes, der neben ihr stand, war Lucretia nahezu eine Augenweide. Obwohl der Fremde mit dem Narbengesicht Siralen an die unfertige Büste eines Amateurbildhauers erinnerte, begleitete ihn eine sanfte, warme Aura. Sie war ihm noch nie begegnet, erkannte ihn anhand seiner tadellosen Aufmachung und der weißen, festlichen Toga aber sofort als hochgestellten Priester – es konnte sich also nur um Telos Malakin handeln. Und damit war auch klar, zu wem der Schatten gehörte, der sich in aller Schärfe vom Weiß der Priestertoga abzeichnete.
Chara Pasiphae-Opoulos war ganz in schwarz gekleidet. Ausnahmsweise trug sie keine Lederrüstung, sondern ein Hemd über engsitzenden Hosen unter einem langen Mantel aus Wildleder. Waffen hatte sie keine dabei, oder doch zumindest keine sichtbaren. Zwei ihrer primitiven, von Kopf bis Fuß tätowierten Krieger begleiteten sie und trugen nichts als einen Rock aus Bast und Tierhaut um ihre Hüften.
Die Assassinin blickte nach vorne und fixierte aus ihren schwarzen Augen die Empore am Ende des roten Teppichläufers. Sie schien gar nicht registriert zu haben, dass Siralen zu ihr und den anderen gestoßen war.
Sie vermag es nicht so recht, das Licht vom Dunkel zu trennen, stahlen sich Langeladeons Worte in Siralens Kopf. Sie hatte den letzten Einsatz in Isahara unter Charas Kommando miterlebt und konnte nur einen einzigen Schluss daraus ziehen: Chara war eine Frau, die niemals aufgab.
„Wenn ich es richtig sehe, haben wir nur eine Möglichkeit, in die Hauptburg einzudringen. Von oben, mit anderen Worten, aus der Luft!“
Das war Chara. Nachdem van de Drakeen die Hoffnungslosigkeit eines Einstiegs in die Festung Isahara deutlich gemacht hatte, initiierte sie kurzerhand ein Selbstmordkommando. Und damit hatte die Assassinin die Drachen auf den Plan gebracht. Von den etwa dreißig Mann der Einheit, die unter ihrem Befehl in die Feste eingedrungen war, überlebte etwa die Hälfte. Erstaunlicherweise. Das Resultat war ein Sieg und die Eroberung