Die junge Frau neben mir schritt zu den anderen zurück und unsere Karawane setzte sich wieder in Gang. Sie waren nur eine Person mehr als meine Studenten und ich verfluchte mich selbst. Hatte ich sinnvoll gehandelt? War es wirklich besser gewesen, allein vorzugehen? Während ich an diesen schwerwiegenden Fragen nagte, musste ich Lori und Kiefer ihrem Schicksal überlassen, aber hatte ich dadurch bedingt, dass ich nun hier festhing, die besseren Karten gezogen?
Ich spürte die bohrenden Blicke meiner beiden Zeitgenossen im Rücken. Ich bildete mir ein, ihre Angst genau zu empfangen. Ich war hier und sie waren schon jetzt weit weg für mich. Es gab nur den einen Unterschied, dass ich allem ausgeliefert war, während sie verborgen im Gebüsch kauerten. Ich war allein mit meiner Angst und es war meine Endscheidung gewesen, vorauszugehen. Eine schreckliche Realität, auch wenn sie mir nicht gefiel!
IRRLICHTER
Er saß wie gelähmt in dem dichten Geäst. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er nicht zu handeln wusste. Hautnah an sich spürte er Lori und er bildete sich ein, ihr Zittern genau zu bemerken, ja sogar ihren beschleunigten Herzschlag zu hören, und er war der Überzeugung, dass sein Herz kaum langsamer schlug. Er blickte seiner Lehrerin nach. So sehr er sich auch bemühte oder so sehr er sich wünschte, in einem Traum gefangen zu sein, desto mehr wurde er sich der nüchternen Wahrheit bewusst, die ihn gefangen hielt. Er vermutete, dass Lori sich zu Tode fürchtete, aber er konnte ihr in dieser Situation keine rechte Hilfestellung geben, da er selbst einen Rat dringend nötig gehabt hätte.
Seine Beine brannten, da er in Hockstellung verharrte, deshalb ließ er sich vorsichtig leise nach hinten gleiten, um dem übermächtigen Kribbeln ein Ende setzen zu können. Diese Bewegung verleitete Lori zu einem ersten geflüsterten Denkanstoß.
„Was machen wir um Himmels Willen nun, Kiefer?“
Er gab keine Antwort, weil er keine auf Lager hatte.
„Meinst du, sie kommt wieder zurück?“
Er drehte sich zu ihr um und der Blick, welchen sie ihm zuwarf, änderte in Sekundenschnelle seine innere Abwehrhaltung. Es würde nichts helfen, wenn er ihre gemeinsame Unruhe noch steigerte, indem er ihr unpassende Antworten zuwarf, die sie nicht hören wollte.
„Ich hoffe es, ernsthaft, Lori!“
Er rieb sich seine Handflächen. Die Gelenke taten ihm weh, seit sie hier angekommen waren, überhaupt schien ihm jeder einzelne Knochen zu schmerzen. Er war froh, dass die Übelkeit verflogen war, die ihn urplötzlich überkommen hatte.
„Verdammt! Eigentlich wollte ich heute gar nicht zur Lesung gehen. Ich hätte einen wichtigen Arzttermin gehabt.“ Lori murmelte unentwegt vor sich hin, während er die weiterwandernde Gruppe von unbekannten Menschen aus den Augen bereits verloren hatte.
„Du bist aber gegangen, Lori, und nun sitzt du genauso ahnungslos hier, wie Miss Clerence und ich. Du willst dir doch wohl jetzt keine Gedanken über deine frühmorgendlichen, eigentlich beabsichtigten Vorhaben machen, oder?“
Er brach ab und beobachtete stattdessen stumm, wie sie auf Knien schleppend aus dem Gebüsch kroch. Allem Anschein nach hatte sie ähnliche Schmerzen in den Gelenken wie er selbst. Ihr Haar stand wirr in alle Richtungen und behinderte ihr Sehfeld enorm. Immer wieder strich sie sich mit der Hand einzelne Strähnen fort und bemerkte gar nicht, wie sehr sie damit ihr Gesicht verschmutzte. Als sie stand, sah sie sich irritiert um.
„Professor Vibelle, sind Sie da?“
Ihre Stimme war dünn, unsicher, bis sie schließlich lauter und mutiger wurde.
„Professor? So sagen Sie doch etwas! Hören Sie auf mit diesem Versteckspiel. Das ist nicht mehr lustig, hören Sie?“
Mittlerweile bewegte sie sich auf unsicheren Beinen und taumelte mehr, als dass sie lief.
„Professor? Wo sind Sie denn, verdammt. Sie sind doch mit uns gekommen! Weshalb verstecken Sie sich?“
Kiefer wusste nicht, ob sie ihn in diesem Moment wahrnahm, da sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Er konnte ihr schreckliches Schauspiel nicht länger ertragen und da das Kribbeln in seinen Beinen langsam nachließ, erhob er sich und schnellte auf sie zu.
„Hör auf damit, Lori! Er ist nicht da, verstehst du das nicht? Er ist fort, wo auch immer. Er hat uns allein gelassen. Kein Mensch weiß, ob wir ihn jemals wiederfinden!“
Sie starrte ihn böse an, dann brach es aus ihr heraus:
„Du bist wahnsinnig, Kiefer! Bist du dir darüber im Klaren, dass wir eben alle noch in einer Unterrichtsstunde in einer Bostoner Universität gesessen haben?!“
Unverändert fassungslos schrie weiter:
„Da! Da stand das Pult!“ Sie wies hektisch in die Luft vor sich.
„Und dort, dort war die Tafel. Da draußen war das Footballfeld, wo...“
Sie selbst brach ab und er vollendete ihren Satz.
„... wo angeblich der Tote gelegen hat, der vor dreißig Jahren an einem Herztod verstorben ist, Lori. Du hast es selbst gesagt!“
„Das kann nicht sein, Kiefer! Man kann nicht zeitreisen, hörst du? Das geht nicht!“ Sie schrie ihn an und gestikulierte wild in der Luft herum. Dann begann sie, nach ihm zu schlagen und traf ihn hart im Gesicht.
Kiefer taumelte einen Schritt von ihr fort und rieb sich die Wange. Er hatte sie offensichtlich unterschätzt und er hoffte, ihre Hysterie in den Griff zu bekommen.
„Dein Schlagen ändert auch nichts an der Tatsache, dass wir immer noch hier festsitzen und nicht wissen, wie es weiter gehen soll, Lori, kannst du das verstehen?“
Wie gelähmt blickte sie ihn an.
„Kiefer, ich ... es tut mir leid. Bitte entschuldige. Oh Gott, was mache ich nur?“
Ihre Blicke kreuzten sich intensiv.
„Du bist außer dir, Lori. Wir können beide nicht verstehen, was mit uns geschehen ist. Wir ... wir sollten versuchen, das Beste aus dieser Sache zu machen. Wir müssen uns auf uns selbst verlassen, Lori. Vibelle ist fort. Wo auch immer er sein mag, wir werden es nicht ändern können. Aber wir wissen auch, dass Miss Clerence diejenige ist, die auf unserer Seite steht, und ich spüre, dass sie zurückkehren wird.“
Eigentlich hatte er gar nicht so viel sagen wollen, aber er sah, wie sehr sie sich unter seinem Monolog zu beruhigen begann. Er wurde unschlüssig und fragte sich, ob sie ihrer Lehrerin heimlich folgen sollten. Oder war es kompletter Wahnsinn, dies zu tun, weil er nicht wusste, wo sie landen würden und ob man sie am Leben ließe, wenn sie dann wussten, in welcher Zeit sie sich befanden. Er verfluchte sein mangelhaftes Wissen in Geschichte. Er war immer sehr physikalisch orientiert gewesen und das Thema der Relativitätstheorie hatte ihn schon immer fasziniert, aber ernüchternd stellte er plötzlich fest, dass ihm all seine Fähigkeiten in diesem Fach nun wenig nutzen würden.
Lori schien sein Gegenpart zu sein, da sie geschichtlich alle überragte. All diese Dinge gingen ihm in Sekunden durch den Kopf und er hatte gar nicht bemerkt, wie sie ihn stumm musterte.
„Folgen wir ihnen, Kiefer?“
Er wusste sofort, auf wen sie ansprach.
„Nein, wir wissen nicht, wie weit sie gehen werden oder wohin