Ungewisse Vergangenheit. Nicole Siecke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicole Siecke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742718860
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das Lenken,

      von Deinen Sinnen an den Ort,

      den ich schuf in Bild und Wort.

      Und wirst Du die Geschichte lieben,

      hab ich ein gutes Buch geschrieben!

      Das alles nur, weil ich gern still,

      schöne Dinge für Dich schreiben will!

      Nicole Siecke

Grafik 2

      Die Autorin:

      Nicole Siecke lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Siegerland. Sie schreibt bereits seit ihrer Kindheit, weil ihre ungezähmte Fantasie sie immer wieder dazu verleitet. Das Buchstabenjonglieren ermöglicht ein Spiel ohne Grenzen und animiert zu neu erschaffenen Traumwelten.

      Sie versucht sich auch in der Dichterwelt und hat zu diesem Buch noch drei Folgeromane geschrieben:

      „Zeitrand“

      „Sinn einer Sache“

      „Nach all der Zeit

      Seine Glieder schmerzten extrem. Die Stiche in seiner Schulter ließen jedoch endlich nach. Er rieb sich die Stelle gedankenverloren, aber all die Strapazen hatten sich gelohnt. Er genoss den Schmerz als Triumph und Belohnung für seine Genialität.

      „Unglaublich! Phänomenal!“

      Seine Gedanken überschlugen sich, während er die Worte laut heraussprudelte. Die Sonne war bereits untergegangen und die Abenddämmerung ließ die schmalen Bäume hier hinter dem Haus gespenstisch wackelnde Silhouetten bilden. Die dürren Äste wiegten unsanft im Wind. Der Herbst kam unaufhaltsam.

      „Das wird er mir niemals glauben! Ich habe es geschafft!“

      Seine eigene flüsternde Stimme klang ihm fremd.

      Mühsam raffte er sich vom Rasen auf und ging im Geiste sämtliche Berechnungen noch einmal durch.

      Wie viel Zeit hatte ihn dieser Traum gekostet?

      Er überlegte. Was war die Zeit schon wert? Jetzt, nach seinen neuesten Erkenntnissen würde sie nie wieder eine Rolle spielen, die Zeit!

      Gleich Morgen würde er seinen besten Freund aufsuchen, um ihm davon zu erzählen. Ach was, er würde ins Haus laufen und ihn gleich anrufen und her zitieren, um sich von ihm als Gott feiern zu lassen.

      „Wir werden eine Reise machen!“ würde er sagen und er freute sich auf das ungläubige Gesicht seines Freundes dabei.

      Scharlatanerie übermannte ihn und er genoss diesen Höhenflug über alle Grenzen hinaus.

      Als er im Hausflur angekommen war, begegnete er unerwartet seinem Spiegelbild an der großen gesprossten Fensterscheibe und er nahm Schmutz auf seinem weißen Hemd wahr.

      Er machte keine Anstalten, es fortwischen zu wollen.

      Nie hatte er sich derart über Flecken auf seiner Kleidung gefreut, denn immerhin war dieser Staub 140 Jahre alt.

      DIE STUNDE, DIE ALLES VERÄNDERN SOLLTE

      Niemand der Anwesenden wusste, ob man sich mit seinem Namen einen Scherz erlaubt hatte. Vibelle zu heißen war noch nicht das Außergewöhnliche, aber die Tatsache, dass sein Vorname Manitu war, stieß in diesem Kurs auf ein leises unterdrücktes Schmunzeln. Es schien ihm in keiner Weise peinlich zu sein, als er sich so genannt vorstellte.

      Manitu Vibelle stand da in seinem weißen Kittel und hatte sich bereit erklärt, Menschen wie uns die geheimen Wege der Physik nahe zu bringen. Er war neu an dieser Universität. Seine unbekannte Vergangenheit sprach also für ihn. Es gab noch keine Skandale zu erzählen, weder konnten ihm Affären noch Ungerechtigkeiten gegenüber den Studenten nachgesagt werden. Er war ein unbeschriebenes Blatt und gerade dies machte ihn so interessant. Interessant, ihn aus seinen eigenen Reserven zu locken, zu sehen, wie er in unangenehmen Situationen handelte.

      Ich betrachtete ihn länger und intensiver als alle anderen, was vermutlich mit meiner Position als Referentin in diesem Kurs zusammenhing.

      Die breiten, aber regelmäßigen Furchen, die seine Stirn und auch die Wangen durchzogen, waren Merkmal eines vermutlich intensiven Lebens. Ich war davon überzeugt, dass jede einzelne Falte ihre eigene Geschichte zu erzählen hatte. Die tief liegenden dunklen Augen funkelten wie frisch polierte Edelsteine in ihren Höhlen. Sie versprühten ein verborgenes Geheimnis, welches nur er zu kennen schien. Das grau- melierte Haar war kurz und bildete den perfekten Rahmen um sein Gesicht. Seine Lippen waren schmal. Es machte fast den Eindruck, als hätten sie sich in all der Zeit ab erzählt. Der weiße Schutzkittel, den er trug, ließ ihn noch dünner erscheinen, als er ohnehin schon war.

      Es waren seine Hände, die ständig mitsprachen und auf diese Art und Weise dem Zuhörer verboten, sein Interesse abschweifen zu lassen. Er war groß, wie man sich Gott vorzustellen vermochte, mit unnatürlich gerader Haltung. War es das, was ihn hatte Manitu heißen lassen? War es seine freundliche, tiefe Stimme, die immer neues Wissenswertes berichtete?

      Ich befeuchtete meine Lippen und zweifelte an meinem Verstand. Der Bleistift, den ich eben noch in der Hand gehalten hatte, war längst ab- gekaut und bot einen eher unappetitlichen Anblick auf dem Seitenrand, wohin er gerollt war.

      Was war es, was mich an diesem Mann so faszinierte?

      Weshalb nur kam es mir so vor, als ob ich ihn seit Jahren kannte?

      Ich bemerkte, dass sein Blick zu mir hinüber geschweift war und mich alle stumm musterten. Offensichtlich hatte er mir eine Frage gestellt, deren Antwort ich ihm schuldig geblieben war.

      Ich erschrak verlegen. Dass ich in solchen Situationen immer noch errötete, ärgerte mich jedes Mal.

      „Entschuldigen Sie, könnten Sie die Frage wohl wiederholen?“

      Meine zittrige Stimme musste ihm meine Unsicherheit widerspiegeln, jedoch blieb sein Gesichtsausdruck weiterhin freundlich.

      „Natürlich. Ich war gerade dabei, mich nach den zuletzt besprochenen Themen zu erkundigen. Offensichtlich ist niemand hier in der Lage, mir dies zu beantworten? Aber Sie als Referentin können mir bestimmt weiterhelfen. Es hat den Anschein, als ob mein Vorgänger sich zu wenig Respekt verschafft hat.“

      Er konnte wohl kaum erahnen, wie Recht seine Annahme war. Unser Kurs galt als der desinteressierteste der ganzen Universität, und es war jedem Lehrkörper ausnahmslos nicht erspart geblieben, diese bittere Erfahrung zu machen.

      „Nun?“

      Wieder sah er mich lächelnd an.

      „Es war die Relativitätstheorie. Wir, wir sind eher zähfließend damit vorangekommen, aber ...“

      „Stilles Gebet! Das hatte ich mir erhofft!“ Sein plötzlicher Ausruf ließ mich erschrocken schweigen.

      „Sie alle sind unglaublich dumm, einem solchen Thema kein besonderes Interesse zu widmen. Meine Wissenschaften darüber werden Sie eines Besseren belehren. Sie werden einen komplett neuen Bezug dazu nehmen können, wenn Sie diese Räumlichkeiten nach unserer Stunde verlassen!“

      Es war unübersehbar, dass niemand seine aufsprühende Begeisterung teilte. Er überlegte kurz: “Sie dort hinten, junger Mann. Nennen Sie mir ihren Namen!“

      Er wies auf Kiefer, der in seiner Ecke saß und gedankenverloren seinen Kritzeleien nachging. Ich hielt ihn für den noch fähigsten Schüler hier, aber er schaffte es immer wieder, seine Intelligenz geschickt zu verschweigen, aus lauter Angst, er könne zu viel gefordert werden. Ich war mir sicher, dass sein jetziges Desinteresse auch nur gespielt