Die offene Türe hinter ihnen ließ ausreichend Tageslicht herein und während Lori das Heu bettete, formten lange Sonnenstrahlen schnurgerade Staublinien in dem Holzgebäude ihre Bahn. Kiefer hustete unwillkürlich.
„Feuer könnten wir hier keines machen.“
Er sagte dies eigentlich nur vor sich hin, aber Lori fühlte sich zu einem Kommentar verpflichtet.
„Wofür Feuer? Wir hätten sowieso nichts zu Essen und zu kalt wird es zu dieser Jahreszeit Gott sei Dank noch nicht. Außerdem würden wir uns durch den Rauch verraten.“
Kiefer nickte lahm. Er musste zugeben, dass sie zu logisch dachte. Er hatte sie an der Bostoner Universität immer nur als graue Maus wahrgenommen, die niemals einen Kommentar in Lesungen losgelassen hätte, wenn man sie nicht ausdrücklich dazu aufgefordert hätte. Insgeheim war er froh, seit Miss Clerence verschwunden war, dass sie sein Dasein teilte. Er beobachtete sie, wie sie geschickt den Heuhaufen zu einer Art Sitzbank geformt hatte und darauf Platz nahm. Sie sah trotzdem erschöpft aus. Ihr langes schwarzes Haar glänzte im hereinströmenden Sonnenlicht und fiel ihr ungehindert ins Gesicht. Genervt zog sie sich einen ihrer Schnürsenkel aus den Turnschuhen und band ihr Haar im Nacken zusammen. Die Frisur ließ sie älter aussehen, aber auch sehr viel magerer.
„Wir müssen die Turnschuhe irgendwo verstecken. Sollte man uns hier finden, könnten wir ein Problem bekommen“, wieder redete sie leise.
„Ok! Ich könnte draußen mal nachsehen, ob ich ein geeignetes Versteck finde. Hier drinnen wird man sie vermutlich eher finden, oder?“
Lori antwortete nicht. Kiefer wandte sich ab und ging die wenigen Schritte bis vor das große Schiebetor. Draußen angekommen, sah er an sich herab. Wenn sie schon ihre Turnschuhe opferte, musste er überprüfen, was ihn nicht zeitgemäß erscheinen ließ. Nach einigen Minuten stellte er fest, dass er Jeans und ein Hemd trug, die, vermutlich ohne große Fragen gestellt zu bekommen, akzeptiert werden würden. Selbst seine Schuhe glichen sich an. Er trug alte abgetragene Boots, und er war froh, dass er sie noch nicht durch neue ersetzt hatte. Er begann, sich selbstkritisch unter die Lupe zu nehmen, aber selbst das Lederbändchen, welches er eng an den Hals geschnürt trug, würden vermutlich viele ähnlich tragen. Das Einzige, was ihm Sorgen bereitete, war seine dünne Metallbrille, die er spontan absetzte, um zu testen, wie sehfähig er ohne sie war. Er trug sie seit Jahren und sie war zu seiner zweiten Natur geworden. Gott sei Dank konnte er behaupten, auch ohne sie durchs Leben zu schreiten, wenn auch mit einer gewissen Unsicherheit, die er jedoch gerne bereit zu geben war, bis er wusste, welche Zeit sie gerade durchschritten. Mechanisch wollte er sie in seine Hemdtasche gleiten lassen, als ihm ein Kugelschreiber aus Metall auffiel, der dort bereits seit Beginn der letzten Physikstunde verweilte. Er hatte ihn erst vor wenigen Tagen gekauft und ein nettes Sümmchen dafür im Fachhandel lassen müssen, aber ab und zu erfüllte er sich solche Wünsche, deshalb beschloss er, ihn zu behalten und tief in der hinteren Hosentasche zu verstecken. Während er noch unschlüssig seine Brille in der Hand hielt, erschien Lori plötzlich neben ihm. Auch sie hatte an ihrem Äußeren gearbeitet und er staunte nicht schlecht über ihre Variationskünste. Bis auf die Tatsache, dass sie barfuß neben ihm stand, kam sie ihm wie eine Cowboy Lady vor. Ihre riesengroßen Goldkreolen, wie sie zurzeit Mode in Boston waren, hatte sie aus ihren Ohrlöchern entnommen und um ihr Handgelenk gezogen. Dort sahen sie aus wie Armreifen und sie klimperten überlaut, wenn sie durch Bewegung zusammenstießen. Um den Hals schmückte sie eine Kette mit Kreuzanhänger, der jedoch unglaublich groß erschien. Er mochte dem Aussehen nach mindestens achtzig Jahre zählen und vielleicht sogar ebenfalls in diese Zeit passen. Auch sie trug Bluejeans, die sie nun sittsam bis auf den Boden umgekrempelt hatte, um ihre nackten Füße zu verstecken.
Sie musterten einander und er lächelte plötzlich ohne Grund. Eigentlich war ihm nicht nach Lachen zumute, aber er wusste, dass Verzweiflung auch zu keiner Problemlösung geholfen hätte.
Er beobachtete, wie sie langsam nahe der Hütte in das Feld schritt und ihre Turnschuhe unter einem kleinen Holzhaufen versteckte. Sein Blick schweifte über den endlosen Horizont und er atmete tief ein. Die frische Luft war warm und tat gut. Sie roch tatsächlich nach Mais und ein ungewollter Speichelfluss setzte in seinem Mund ein.
„Wir könnten uns ein paar Maiskolben stehlen.“
Es war das Erste, was Lori seit langer Zeit von sich gab.
„Kann man sie denn roh essen?“
„Willst du mich auf den Arm nehmen? Das ist besser, als zu verhungern!“
Wieder hatte sie Recht. Ohne seine Antwort abzuwarten, schlängelte sie sich vorsichtig durch das Maisfeld und achtete streng darauf, nicht allzu viele Pflanzen zu knicken, damit man als Fremder ihre gewählte Strecke nicht ablaufen konnte. Plötzlich rief sie: “Kiefer! Sieh nur, dort hinten!“
Er folgte ihrem Blick und sah, was sie gemeint hatte. In etwa zwei Meilen Entfernung konnte man eine Farm erkennen. Es war ein weiß getünchtes Haus mit weitem Vorplatz. Man konnte nicht erkennen, ob sie bewohnt war. Kiefer hielt die Luft an.
„Sieh mal, dort steigt Rauch aus dem Schornstein auf. Ob Miss Clerence dort ist?“
Er hatte den Rauch ohne Brille nicht erkennen können.
„Ich hoffe es. Wenigstens ist keine Stadt in der Nähe, so dass wir es nicht gleich mit einer ganzen Armee zu tun haben.“
Sie lauschte seinen Worten.
„Weiter hinten scheint noch ein Gebäude zu sein, aber es ist kein Wohnhaus. Vielleicht eine Scheune oder ein Stall. Ist das da eine Viehtränke?“
Kiefer überlegte. „Ich weiß es nicht, Lori!“
„Sollen wir in unserem Versteck bleiben?“
„Das wäre ratsam, lass uns noch etwas warten. Vielleicht bis zum Einbruch der Dunkelheit oder noch später.“
Sie kam zurück zu ihm und war dabei, einen noch nicht ausgereiften Maiskolben zu pellen. Es knackte und die langen Fäden verwickelten sich um ihre Hände. Fassungslos sah er ihr dabei zu, wie sie hineinbiss und ohne irgendeine Gesichtsmimik kaute.
„Man kann sie nicht roh essen, Lori!“
„Ich würde auch einen Fisch roh herunterschlucken, wenn du mir einen im Bach fangen würdest.“
„So kenne ich dich gar nicht, Lori. Du warst immer sehr still.“
Er sah sie verwundert an.
„Du weißt gar nichts von mir, Kiefer.“ Sie kaute unbeirrt weiter.
„Wenn wir in dieser Zeit überleben möchten, müssen wir uns umstellen.“
„Du meinst ... vielleicht wachen wir ja auch morgen auf und alles war nur ein böser Traum?“ Kiefer konnte seine Ironie kaum noch unterdrücken.
„Der Traum muss nicht böse sein, wir müssen nur das Beste daraus machen. Ich weiß, was du von mir denkst, Kiefer. Vielleicht hört mein Wagemut ja auch abrupt auf, wenn all mein Adrenalin verbraucht ist. Ich habe keine Ahnung.“
„Ich werde heute Nacht hinübergehen, Lori, vielleicht habe ich ja Glück und stoße ganz von allein auf Miss Clerence.“
Dieser Satz klang ihm noch in den Ohren, als er sich in absoluter Dunkelheit auf den Weg zu dem vermeintlichen Hof machte. Es hatte einiges an Überredungskunst gekostet, Lori davon abzuhalten, ihn zu begleiten. Er hatte sie mehr oder weniger dazu gezwungen, in der Holzhütte zu bleiben. Zu seinem Glück war sie auch noch erschöpft eingeschlafen, und er hatte die Gelegenheit genutzt, sich heimlich davon zu schleichen. Es war bereits dunkel geworden, als er sich zielsicher Richtung Farm bewegte. Er vermisste das Licht einer Straßenlaterne und bemerkte erst jetzt, wie sehr all diese Dinge für Menschen wie sie als selbstverständlich hingenommen wurden. So stolperte er erst durch das Maisfeld und erschrak bei jedem Geräusch, welches vermutlich die Natur verursachte. Der Mond schien hell, seine halbe Sichel brachte immerhin genug Licht, als er endlich das Feld hinter sich lassen konnte. Ein kurzes Waldstück, eigentlich nur der Saum einer Baumreihe, und er kam an ein Gatter,