Ungewisse Vergangenheit. Nicole Siecke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicole Siecke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742718860
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sagen „Hallo“ und fragen ganz zufällig, in welcher Zeit wir uns befinden?“

      Der tadelnde Blick, den ich ihm zuwarf, duldete keine weiteren ironischen Schnapsideen. Gerade als ich etwas erwidern wollte, mischte sich Lori dazwischen.

      „Wir werden auf keinen Fall dort hingehen. Seht doch mal an Euch herunter!“

      Das brauchte ich nicht, um zu verstehen, was sie damit meinte. Sie selbst trug Jeans mit Turnschuhen, während Kiefer Gott sei Dank an diesem Morgen braune Halbschuhe gewählt hatte. Trotzdem sahen sie beide aus wie ganz normale junge Erwachsene des einundzwanzigsten Jahrhunderts. T-Shirts waren vermutlich genauso wenig bekannt, ebenso Reißverschlüsse oder Regenjacken aus Goretexstoff. Ich war die Einzige, die einen langen Rock anhatte, obwohl ich den nur trug, um mich von dem Rest der Schüler unterscheiden zu können. Ich bildete mir ein, dadurch ein wenig älter auszusehen, und es bestätigte mir diese Tatsache, dass es ausnahmsweise mal die richtige Kleiderwahl an jenem verfluchten Morgen, an welchen uns Manitu Vibelle in die Vergangenheit befördert hatte, gewesen war.

      „Wir müssten uns irgendwie andere Kleidung beschaffen. Es bleibt uns keine andere Wahl, außer sie zu stehlen!“

      Loris Aussage brachte mich zum Überlegen. Sie schien sich wieder gefangen zu haben. Dass sie sich so schnell an die Situation adaptieren konnte, bewunderte ich.

      „Bist du verrückt? Weißt du, wie man mit Dieben in früheren Zeiten verfahren ist? Ich habe keine Lust, am Galgen zu baumeln!“ Kiefer sah sie entsetzt an.

      Ich hörte ungeduldig diesem Dialog zu.

      “Das alles hat doch keinen Sinn, mein Gott! Woher wollen wir wissen, ob ein solches Gesetz noch greift, wenn wir nicht wissen, welches Datum wir schreiben?“

      Mein Satzbau klang kompliziert, aber ich glaubte trotzdem, dass sie verstanden hatten, was ich damit meinte.

      Ich sah sie beide nacheinander an.

      “Es gibt zwei Dinge, die überlebenswichtig in unserer Situation sind. Erstens, wo befindet sich Professor Vibelle und zweitens, welches Jahr schreiben wir?“

      Noch während ich dies aussprach, kam mir die nächste Idee.

      „Lori, gib mir deinen Strickpullover, dafür bekommst du meine Jacke. Hier Kiefer, hüte mir diese Uhr, auch wenn sie kaputt ist. Sie war ein Erbstück meines Großvaters, ich hänge sehr daran!“

      Beide sahen mich erschrocken an, aber instinktiv wussten sie wohl, was ich vorhatte zu tun.

      „Sie können da nicht einfach hingehen, Miss Clerence, es ...“

      Ich unterbrach Kiefer forsch.

      “Nein, es ist besser, sie weiter ziehen zu lassen und womöglich auf eine Gruppe blutrünstiger Indianer zu warten, die sich auf dem Kriegspfad befinden, oder andere kriminelle Wegelagerer, die sich über unseren Besuch definitiv freuen, du hast Recht.“

      Ich schaffte es nicht, meine Unsicherheit zu überspielen.

      “Einer muss sich opfern und ich bin nun mal die Älteste!“

      Niemand von ihnen widersprach mir mehr, was meine Angst in keiner Weise dämpfte. Über Handlungen zu sprechen, war eine Sache, sie in die Tat umzusetzen, die andere, und so machte ich mich ziemlich übereilt auf den Weg, um nicht noch genauer darüber nachdenken zu müssen. Ich hatte ihnen noch einen Treffpunkt gegen Abend von weitem zugerufen und hoffte inständig, dass sie meine Worte noch hatten vernehmen können. Es war auch mittlerweile zu spät, um umkehren zu wollen, denn einer in der Gruppe hatte mich bereits entdeckt, als ich ihnen unsicher stolpernd folgte.

      Meine Knie schlugen unwillkürlich aneinander. Ich schaffte es nicht, sie einzuholen. War ich so in Panik versetzt, dass mir jeder einzelne Schritt wie ein Weglaufen vor meinem alten Leben vorkam?

      Die Person, die mich gesehen hatte, brachte schließlich alle anderen zum Stehen. Mir war nicht verborgen geblieben, dass beide Männer die Hand an der Waffe platzierten, um von einer nötigen Abwehr im Bedarfsfall Gebrauch zu machen.

      „Seid Ihr allein?“

      Der Mann, der mich als erster ansprach, konnte nicht ahnen, welche Erkenntnis er allein mit der gewählten Grammatik seinerseits in mir auslöste. Wir waren tatsächlich in einer anderen Zeit, und ich überlegte in Sekundenschnelle, ob diese Menschen hier ungefährlich waren und ich meine Begleiter im Dickicht hinter mir verraten konnte. Ich entschloss mich schließlich dagegen und nickte stumm. Ich stolperte ungeschickt und fiel in feuchten Schlamm, was den Mann, der mich gerade angesprochen hatte, dazu bewegte, mir aufzuhelfen. Sein Griff war wie aus Stahl, so dass ich befürchten musste, blaue Flecken am Oberarm zurückzubehalten.

      Er musste dies gleich bemerkt haben, denn er lockerte daraufhin seine Hand sofort.

      „Wer seid Ihr? Und woher kommt Ihr?“

      Das waren zwei Fragen auf einmal und meiner Meinung nach direkt zu viele. Sein nahes Herantreten flößte mir Angst ein. Immer noch wie gelähmt, starrte ich ihn an. Mein Herz raste. Er musste mein innerliches Zittern genau spüren.

      „Seid Ihr stumm?“

      Der andere ältere Mann war hinzugekommen, mischte sich dazwischen und musterte mich unverhohlen abweisend, als sei ich eine Aussätzige. Wäre meine Zeit auf meiner Seite gewesen, hätte ich ihm meinen Standpunkt dominant deutlich nahegebracht, so aber musste ich mir wohl oder übel Emanzipation aus dem Kopfe schlagen, denn es hätte mich unter Umständen mein Leben gekostet.

      „Ich ... äh ...“ Panik stieg in mir auf. Was sollte ich ihnen sagen, woher ich kam? Siedend heiß überlegte ich in Sekunden, welche Städte es vermutlich hier gab, oder besser gesagt, welche es noch nicht gab. Ich glaubte oder hoffte immer noch, dass wir uns an dem Ort in der Nähe der Universität Bostons befanden, wenn auch die Landschaft nicht besiedelt war. Wer wusste schon, wie viele Jahre wir „gereist“ waren?

      „Ich glaube, ich bin…äh… gestürzt. Ich kann mich an nichts erinnern. Können… könnt Ihr mir helfen?“

      Diese angewandte Grammatik klang fremd in meinen Ohren. Ich hielt es für das Beste, auf diese Art jeglichen weiteren Fragen aus dem Wege zu gehen.

      Der jüngere Mann, der mich noch immer festhielt, als befürchte er, ich könne wieder umfallen, sprach mich erneut an.

      „Seid Ihr verletzt?“

      Ich schluckte hart, während der Ältere amüsiert laut lachte. Endlich kamen auch die anderen beiden und ich war unendlich dankbar um die Tatsache, dass es sich um zwei jüngere Frauen handelte. Ich war umringt von fremden Menschen, die auch noch einer womöglich früheren Zeitepoche angehörten. Nie im Leben hatte ich mich so überfordert gefühlt.

      „Lass sie endlich in Frieden, Murray, und hör auf, sie zu verspotten. Du siehst doch, in welcher Verfassung sie ist!“

      Der Mann neben mir musste mich loslassen, weil die junge Frau eine Decke um mich hüllte. Mir fiel erst jetzt auf, dass ich fror. Dankbar nickte ich in ihre Richtung. Auf unerklärliche Weise herrschte sofort eine stumme Gemeinsamkeit zwischen uns Frauen.

      Murray wandte sich immer noch skeptisch ab.

      „Beobachte den Waldrand. Ich traue dieser Frau nicht, Adam! Du gehst hinter ihr! Wir nehmen sie mit, so desorientiert kann man sie ja nicht laufen lassen und so mager, wie sie aussieht, würde sie sogar ein hungriger Bär ablehnen!“

      Sein Gesagtes schien eisernes Gesetz. Ich nahm an, dass er als Ältester die Führung dieser Truppe übernahm.

      Adam war der, der neben mir stand, und ich hatte erst jetzt, nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Er war mittelgroß und hätte sicherlich aufgrund seiner ausstrahlenden Kraft in die Schwergewichtsklasse des Boxsportes gepasst, im Gegensatz zu diesem Murray, der wesentlich kleiner aussah jedoch einem bulligen Stier in keiner Weise nachstand.

      Adams Haar war pechschwarz und sehr lang. Er trug es zusammengebunden im Nacken, während Murrays Schopf kurz frisiert und bereits von silbernen Strähnen durchzogen