Sein Feuerzeug!
Jetzt fiel es ihm wieder ein. Es verbarg sich in seiner Hosentasche, wo es Platz für seine Brille gemacht hatte, die er jetzt wieder auf der Nase trug. Wenn er schon so gut wie nichts sehen konnte, so durfte er jetzt nicht auch noch auf seine Brille verzichten!
Irgendein Geräusch ließ ihn plötzlich zusammenfahren und dann nahm er eine Bewegung viel weiter unten am Zaun wahr, die nicht von Miss Clerence stammte. Er konnte es an seiner Silhouette sehen. Es handelte sich unmissverständlich um einen Mann und zwar um einen großen Mann, der in Warteposition an einer Art Tor stand. Er verhielt sich stumm wie ein Fisch und schien genau zu wissen, was als Nächstes geschehen würde. Kiefer duckte sich lautlos und hielt den Atem an. Wenige Sekunden später erkannte er seine Lehrerin. Sie war es, die sich aus der Dunkelheit löste und ohne Vorahnung in die Arme dieses Mannes laufen würde.
DAS HAUS UND SEINE BEWOHNER
Gerne wäre ich bereits nach wenigen Minuten auf den Wagen, den sie bei sich führten, geklettert, denn ich war plötzlich sehr erschöpft und sehnte mich nach Ruhe. Es war jedoch nicht möglich, da er voll beladen mit Jutesäcken, Holzfässern und Ledertaschen war. Ich vermutete, dass sie von einem größeren Markt heimgekehrt waren. Die Fässer, die man der Achse am nächsten gelagert hatte, nahmen den größten Raum ein. Außerdem waren da noch ein paar gackernde Hühner, deren Federkleid von keiner guten Pflege sprach. Sie waren weiß, hinterließen aber eher den Eindruck eines schmutzigen Schneehaufens bei mir. Ich nahm nicht an, dass diese Tiere jemals in der Lage sein würden, Eier zu legen, und diese Annahme erinnerte mich daran, dass ich lange nichts mehr gegessen hatte.
Mit knurrendem Magen und beinah einer Ohnmacht nahe, kamen wir wenig später bei einem weiß getünchten und weiß umzäunten Holzhaus mit großen gesprossten weißen Fenstern an. Die kleine Veranda war überdacht und wenige Treppenstufen wiesen den Weg ins Innere. Auf dem spitzen Satteldach befand sich ein landesüblicher Feuerturm, der zu meiner Zeit nur noch als besonderes Schmuckstück angesehen wurde. Die Bauweise hätte mir Aufschluss über diese Zeit geben können, mir stand jedoch im Moment der Sinn nicht nach geschichtlichen Spekulationen. Der Vorplatz war groß und ungepflastert. Eine Scheune auf der linken Seite unweit gab Aufschluss darüber, dass es sich um eine kleine landwirtschaftlich betriebene Farm handelte. Kleine dichte Büsche umrandeten ihren Sockel und bestimmt handelte es sich um Brombeersträucher, die bald Früchte tragen würden. Ein Mischwald umgab die Farm und eigentlich war es ein sehr hübsches Fleckchen Erde, trotzdem fühlte ich mich schlecht und hatte Angst vor dem nächstkommenden.
Mein Blick wanderte wenig später an dem einzigen dort gewachsenen riesigen Ahornbaum zur rechten Seite des Hauses empor, dessen grünes Blätterdach einzigartig war und im Herbst ein Traum darstellen musste. Jeder Fotograf meiner Zeit hätte hier ein traumhaftes Kalenderbild heraus gezaubert.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir gelaufen waren, aber ich schätzte die zurückgelegte Strecke auf etwa drei Meilen. Wie ein Adler aus der Luft hatte ich versucht, mir die Gegend einzuprägen, aber ich dachte mit Schrecken an meinen Rückweg heute Nacht. Ich hoffte, meine Flucht mit anderer Kleidung, Brot und ein paar Decken im Gepäck zu späterer Stunde heimlich einplanen zu können.
Ungeduldig wartete ich das Ritual der Willkommenszeremonie vor diesem mir noch unbekannten Haus und seinen Bewohnern ab. Eine Mittfünfzigerin war hinzugekommen, die einen sehr interessierten Gesichtsausdruck aufgelegt hatte. Besuch war vermutlich in dieser Einöde eher selten der Fall. Bevor ich sie genauer inspizieren konnte, schweifte mein Blick wieder zu Adam. Er versorgte die zwei Pferde, die sich ihre Ruhe wirklich verdient hatten. Sie waren schweißnass. Ihre Leiber zuckten vor Erschöpfung. Die beiden jungen Frauen waren bereits dabei, die Hühner neben den Ledertaschen abzuladen und Murray widmete sich voller Inbrunst einem der ersten Fässer.
„Wir haben dir eine Küchenhilfe mitgebracht, Amber! Sie scheint auf den Kopf gefallen zu sein. Sie macht einen eher dummen Eindruck auf mich. Sie ist hinter uns her gestolpert, als sei sie betrunken und sprechen kann sie auch nicht richtig. Ihr fehlt jede Erinnerung!“
Ich traute meinen Ohren kaum. Es kostete mich einiges an unterdrücktem Eitel, um nicht hochzugehen wie eine Rakete. Er lachte laut in meine Richtung, so dass ich abermals Einblick in seinen grauenhaften Mund hatte. So wie er unsere erste Begegnung beschrieb, konnte ich wohl froh sein, dass er mich nicht hatte in Ketten legen lassen.
Die Frau, die sich Amber nannte, sah freundlich in meine Richtung.
„Ihr seht in der Tat schlecht aus. Wo kommt Ihr denn bloß her? Ich hoffe, man hat Euch nichts angetan?“
Sie musterte mich besorgt und strich mir freundlich über das Haar. Anscheinend ahnte sie, dass ich ihr eine Antwort schuldig bleibe würde, deshalb sprach sie weiter:
„Macht Euch nichts aus dem dummen Gerede meines Bruders. Man muss ihn erst besser kennen lernen, um festzustellen, dass er eine gute Seele hat!“
Sicherlich hatte sie Recht, aber es stand mir nicht zu, ihr beizubringen, dass ich nicht das geringste Interesse hatte, ihrem gut gemeinten Vorschlag nachzukommen. Ich nickte ihr verstohlen freundlich zu, weil ich nichts zu erwidern wusste. Sie hatte ähnlich schwarzes Haar wie auch der Jüngere, namens Adam. Die bunte Schürze, die ihren dünnen Leib umschlang, bildete einen interessanten Farbkontrast zu ihrem schlichten Kleid. Sie war braungebrannt und für ihr Alter sehr attraktiv.
„Diana, Betty, kümmert euch bitte zuerst um die Hühner im Stall! Na, gesund sehen die nicht gerade aus, aber das bekommen wir schon hin!“
Sie sprach die beiden Mädchen an, die mit auf dem Weg gewesen waren. Mir machte sie dann Zeichen, ihr ins Innere des Hauses zu folgen. Ich ging ihr nach und die saubere Einfachheit in der Küche beeindruckte mich sehr. Ich hielt Ausschau nach Wandkalendern oder Schriftblättern, die mir etwas über diese Zeit verrieten. Meine Hoffnung wurde schnell erstickt, Zeitung gab es wohl schon, aber man hatte sie offensichtlich zum Zünden zweckentfremdet. Es waren nur noch verkohlte hauchdünne zittrige Fetzen im Kamin zu erkennen und ich nahm nicht an, dass hier täglich ein Zeitungsbote den Hof aufsuchte. Mein Mut sank. Ob ich jemals an ein Datum würde herankommen können? Amber machte sich an einem Herd zu schaffen, der sicherlich seine hundert Jahre zu meiner Zeit auf dem Buckel haben würde, um dem herunter gebrannten Feuer ordentlich Zunder nachzugeben. Die Mahlzeit dort dampfte noch ein wenig und kleine Nebelschwaden stiegen aus dem Topf auf.
Ich sah ihr bei dieser Verrichtung zu und hoffte, dass das Feuer mich schnell wärmte. Ich fror immer noch erbärmlich und machte diese außergewöhnliche Situation dafür verantwortlich. Amber schien dies zu bemerken.
„Ich bringe Euch gleich noch eine Decke, am besten wird es sein, wenn Ihr hier vor dem Feuer lagert, um die Füße warm zu bekommen.“
Ich war ihr unendlich dankbar für ihr Verständnis und so kam ich ihrer Aufforderung gerne nach. Ihr Kopftuch war streng nach hinten gebunden, und die Haarmassen, die darunter verborgen waren, zeichneten sich widerspenstig ab.
„Könnt Ihr Euch wirklich an nichts mehr erinnern,Kind? Auch nicht an Euren Namen?“
Röte schoss mir ins Gesicht, die sie, wie ich hoffte, hier in der halbdunklen Küche nicht bemerken würde.
„Ich schätze nicht “, verlegen räusperte ich mich.
Die schwere Holztüre wurde geöffnet und Adam trat herein. Er schleppte einen der vielen mitgebrachten Säcke auf dem Rücken. In Sekundenschnelle rechnete ich an dem Gewicht seiner Last, welches ihm überhaupt nichts auszumachen schien. Sicherlich gehörte das Schleppen von solchen Säcken zu seiner täglichen Arbeit.
„Stell ihn in die Kammer, aber bitte nicht wieder auf die Wollreste, sonst könnt ihr alle demnächst auf eure Kleidung verzichten!“
Ich beobachtete, wie er in einem Nebenraum der Küche verschwand. Ein dumpfes Krachen verriet, dass er den Sack abgeladen hatte.