Gelöscht - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabina S. Schneider
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742730121
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für alle sprechen, aber ich würde dir gerne helfen“, höre ich die Stimme, die für mich Partei ergriffen hat. Die Jugend ist wagemutig und halsbrecherisch. Deswegen wird sie von dem Alter getötet und kann nie lange leben.

      Ich blicke mich zum ersten Mal um und sehe einen jungen Mann. Seine Augen sind blau wie der Himmel, sein Haar dunkelbraun wie der Stamm einer kräftigen Tanne. Die anderen Männer scheinen älter. Ihre Gesichter von der Zeit gezeichnet, tragen sie Bärte und blicken mich argwöhnisch an.

      „Das ist freundlich, aber ich will euch keine Schwierigkeiten bereiten“, erwidere ich und versuche mich aufzurichten. Der rechte Ärmel meiner Jacke ist verschwunden. Meine Schulter ist bandagiert und mein Arm hängt in einer Schlinge.

      „Dafür ist es zu spät“, brummt einer von ihnen.

      Ich zucke zusammen, suche den Sprecher und meine Augen finden einen riesigen Mann, der breitbeinig dasteht und auf mich hinunterblickt. Selbst unter der dicken Kleidung kann ich erkennen, dass sein Körper nur aus Muskeln bestehen muss. Er strahlt Härte aus, aber vor allem innere Ruhe. Lange sieht er mich stumm an, dann sagt er: „Der Junge hat Recht. Dich einfach in die Kälte zu schicken, ist unmenschlich. Doch hierbehalten können wir dich auch nicht. Wir werden deinen Vorrat mit Wasser aufstocken und Nahrung. Du kannst ein paar Tage hierbleiben und zu Kräften kommen. Mehr können wir nicht für dich tun.“

      Die Männer um mich herum werden unruhig. Doch niemand widerspricht dem Riesen. Ich blicke mich um, zähle zwölf Männer und überlege, wie lange ich bleiben kann, ohne sie zu gefährden. Cailan hat es auf mich abgesehen, doch was wird er mit den Männern tun? Wird er sie ignorieren? Mich töten und Verstärkung holen, um sie auszulöschen oder gefangen zu nehmen?

      „Danke! Das ist mehr, als ich je erhoffen konnte.“ Eine Nacht. Ich könnte hier eine Nacht verbringen, Wärme und Kraft tanken. Vielleicht Informationen sammeln.

      „Ich begleite sie“, sagt plötzlich der junge Mann mit den himmelblauen Augen.

      „Tu, was du nicht lassen kannst! Da sieht er das erste Weibsbild seit ein paar Monaten und verliebt sich gleich in das nächstbeste Wesen mit Brüsten“, brummt der große Mann.

      „Onmma!“, ruft der junge Mann aufgebracht und sein Gesicht wird dunkler. Er wendet sich zu mir und sagt: „Hör nicht auf den alten Brummbären! Er wohnt schon so lange hier draußen nur mit Männern, die selten mehr als ein Rülpsen oder Gurgeln herausbringen, dass er vergessen hat, wie man mit einer Dame spricht.“ Ein abfälliges Prusten folgt seinen Worten.

      „Ich heiße Kirril. Hast du einen Namen?“

      Ohne darüber nachzudenken, erwidere ich: „Mo. Ich heiße Mo.“

      „Hallo Mo! Wenn wir die Feiglinge in ein paar Tagen hinter uns lassen, kann ich dich auch tragen, solltest du noch nicht laufen können.“

      Kirril klingt übereifrig und ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken.

      „In deinen Träumen, Junge! Sie bleibt hier, bis sie auf eigenen Beinen stehen kann und sie schläft alleine, ist das klar? Keiner nähert sich ihr auf mehr als einen Meter. Wer nicht gehorcht, wird erschossen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“, sagt Onmma.

      Erschrocken blicke ich mich um und entdecke Enttäuschung in einigen der Blicke. Verschreckt, kauere ich mich zusammen.

      Onmma dreht sich zu mir und sagt: „Männer, die länger als drei Monate keine Frau gesehen haben, sind wie Tiere. Merk dir das! Am besten siehst du alles, was einen Schwanz hat, als Tier. Der Kleine ist noch jung und weiß es noch nicht besser. Er ist ein guter Junger. Es wäre eine Schande, wenn er wegen dir sterben müsste.“

      Ich nicke und verstehe die Botschaft.

      Man gibt mir eine Decke und ein Kissen. Trotz des Feuers in dem Ofen, der in der Mitte des Zimmers steht, sind meine Finger klamm. Ich blicke mich um und finde Wände aus Holz. An der Decke sind Bretter kreuz und quer übereinander genagelt.

      „Das ist eine alte Lodge. Hier haben früher Menschen auf Wanderschaft genächtigt. Die meisten sind unbewohnbar, nichts mehr als Ruinen. Viele sind aus Stein gebaut. Einige, wie diese, aus Holz. Wir haben hier sogar eine Küche. Wenn du auf Toilette musst, findest du vor dem Haus eine einfache Sanitäranlage. Wir Männer waschen uns meist mit kaltem Wasser. Aber für dich können wir auch Wasser heiß machen. Soll ich dir helfen, die Schuhe auszuziehen? Beim Schlafen sind die sicher störend. Ich gebe dir ein Paar von meinen Socken, dann werden deine Füße nicht kalt. Die meisten von uns schlafen mit den Füßen zum Ofen. Es träumt sich schlecht mit kalten Füßen.“

      Der Redeschwall überfordert mich und ich muss an meinen ersten Tag in der Anstalt … dem Refugium denken.

      Bevor ich antworten kann, packt Kirril mein Bein, öffnet mit wenigen Griffen gekonnt die Verschlüsse meiner Schuhe und zieht sie mir von den Füßen. Leise pfeift er durch die Zähne. Ich will es nicht sehen und doch gleitet mein Blick meine Wade entlang. Die weißen Socken sind an mehreren Stellen rot gefärbt. Kurz frage ich mich, ob es mein Blut ist. Eine dumme Frage. Wessen sonst? Ich versuche mit den Zehen zu wackeln. Doch nichts bewegt sich. Meine Füße sind taub.

      Vorsichtig zieht Kirril an den Socken.

      „Einen Meter Abstand habe ich gesagt!“, donnert Onmma. Zum ersten Mal ist es nicht Ruhe, die er ausstrahlt.

      „Jaja, natürlich. Dann musst du jedoch ihre Füße behandeln. Sonst darf ich sie wirklich die ganze Zeit über tragen. Mir soll es recht sein.“ Ein herausforderndes Lachen liegt in seiner Stimme.

      „Also gut, behandle ihre Füße und dann hältst du zwei Meter Abstand von ihr!“, brummt Onmma.

      „Ich werde schon nicht über sie herfallen, wenn sie es nicht will“, erwidert Kirril, sieht mich dabei lächelnd an und zwinkert mir zu.

      Ich schrecke zurück. Sein Lächeln hat etwas schmerzhaft Vertrautes.

      Seinen Grübchen verschwinden, als er mir in die Augen sieht. „Entschuldige! Ich wollte dir keine Angst machen. Ich finde dich hübsch, aber ich werde mich benehmen. Ehrenwort! Ich will dir nur helfen.“

      Ich nicke wortlos.

      Kirril steht auf, holt eine Schüssel mit Wasser, Pflaster und Verbände. Er wäscht meine geschundenen Fußsohlen, trocknet sie vorsichtig ab, reibt eine Salbe darauf und verbindet die wunden Stellen. Dann zieht er sanft ein frisches Paar Socken über meine Füße.

      „Danke“, murmele ich und starre auf seine großen, warmen Hände, die noch um meine Fesseln liegen. Bilde ich es mir nur ein oder zieht sein Daumen sanfte Kreise auf meiner Haut? Ich blicke verwirrt hoch zu ihm, starre in seine Augen. Ein sanftes Feuer brennt in ihnen, sie blicken in mich, suchen. Doch nach was? Die Stellen, die er berührt werden warm, brennen. Ich wünschte … ich wünschte …

      Cailans Blick, in dem eine ähnliche Flamme gebrannt hat, taucht vor meinem inneren Auge auf und ich zucke zurück. Sofort lässt Kirril mein Bein los und ich verstecke mich unter der Decke, rolle mich zusammen und mache mich klein.

      Ich kneife meine Lider fest zusammen und doch sehe ich brennende Augen mal hellblau wie der Himmel, mal schwarz, wie eine sternenlose Nacht. Mein Herz klopft schneller und ich versuche es zu beruhigen, lenke mich ab und denke über die heutigen Begebenheiten nach. Mein Gehirn dreht sich in alle Richtungen und ich versuche das Gehörte zu verdauen. Steht es wirklich so schlimm um die Menschheit? Sind wir alle gehirngewaschen?

      Meine Gedanken kreisen um sich selbst und bleiben bei einer Frage hängen: Wie lange kann ich hier bleiben, ohne jemanden in Gefahr zu bringen? Wärme fährt in meine Glieder, breitet sich von meinen pochenden Füßen über meine Beine, meinen Bauch bis zu meiner Brust aus. Sie erreicht meine Wangen und bevor ich eine Antwort gefunden habe, hat sie mich eingelullt und ich drifte weg.

      Ein seltsamer Geruch weckt mich und ich schieße hoch. Wo bin ich? Schmerz durchzuckt meine Schulter und es fällt mir wieder ein. Der Fall, die Jagd, der Sturz und die Männer. Doch in dem Raum mit dem Ofen ist niemand. Ich richte mich auf, suche nach meinen Schuhen und schlüpfe hinein. Meine Füße schmerzen,