Wenn sie es anstreben. An dieser Frage hängt so viel, dass meine Brust sich zusammenzieht und mir das Atmen immer schwerer fällt. Und ich erkenne Angst. Angst davor, das Vielleicht zu verlieren und damit die Hoffnung. Denn nichts tötet Hoffnung, außer Wissen. Ich bleibe stumm und warte.
Cailan entfährt ein leiser Seufzer und er sagt: „Die Daten werden nach der Extrahierung zwischengespeichert. Wir nennen sie Zeugen. Die Zeugen legitimieren nach dem Urteil die Vollstreckung. Es ist ein Sicherheitsmechanismus, der fehlerhafte Urteile heraussieben soll. Die Zeugen durchleben aus der dritten Perspektive die extrahierten Daten. Sie tragen die Daten ein Jahr in sich. Analysieren sie und können während dieser Zeit Einspruch erheben. Geschieht dies nicht, werden Standarddaten auf einen Server geladen und gelöscht. Nur Anomalien, von denen wir lernen können, werden aufgehoben.“
Die Luft bleibt mir weg. Ich kann nicht mehr atmen. Jemand trägt meine Erinnerungen in sich. Wenn dieser Jemand Zweifel an meiner Schuld hat, kann ich mein Erinnerungen wieder haben? Kann ich in mein altes Leben zurück, was auch immer das bedeutet?
„Eine Wiederintegration von Erinnerungen ist sehr selten. Und noch seltener ist sie erfolgreich“, sagt Cailan und treibt ein Messer in meine Brust.
Ich keuche auf. Meine Hoffnung zerbricht.
„Was empfindest du jetzt?“, fragt Cailan. Fordernd. Befehlend. Und er reist mir die Antwort von den Lippen. „Hast du Schmerzen?“
Meine Brust schnürt sich zusammen und ich nicke.
„Weil es keine Hoffnung gibt dich wieder ganz zu machen?“
Er impliziert, dass ich zerbrochen bin und er hat recht. Tränen rinnen meine Wangen herunter und ich spüre seine Finger auf meiner Haut.
Er fängt eine Träne auf und schiebt sich den Finger in den Mund. „Deine Trauer schmeckt salzig.“ Ich schließe die Augen und frage mich, wie viel von all dem hier wahr ist.
„Ich kann dir helfen. Ich habe eine Kopie deiner Daten und kann dir deine Vergangenheit näher bringen, wenn auch nicht reimplementieren. Möchtest du das?“
Meine Augenlider schießen hoch und ich starrte in die dunklen Augen, die wissen, wer ich war. Die wissen, was ich getan habe. Ich will zweifeln und lasse den Zweifel in mein Herz. Wie viel Lügen mir Cailan auch auftischt, es ist meine einzige Chance, mehr zu erfahren. Also nicke ich und besiegle mein Schicksal.
„Okay. Für heute ist es genug. Sonst bekommt Mutter Sunshine noch einen Herzinfarkt vor Sorge.“
Ich will mehr wissen, doch ich beuge mich seinen Worten. Stille Verzweiflung umgibt mich, als er mich aus seinem Zimmer führt. Wir gehen einen anderen Weg. Einen kürzeren. Es sind kaum zehn Minuten vergangen, als ich vor einer Tür stehe, die in das Glasreich führt. Ich durchschreite sie alleine, drehe mich um und sehe Cailan fragend an. Wann sehen wir uns das nächste Mal, fragen meine Augen schweigend. Doch ich bekomme keine Antwort.
Es dauert nicht lange, bis Sunshine mich findet. Sie nimmt mich in den Arm und streichelt mir über den Kopf.
„Hat er dir wehgetan?“, fragt sie mich.
Meine Hand fährt zu meiner Brust, in der ein zerbrochenes Herz liegt und ich bin mir nicht sicher, habe das Gefühl, dass er viel mehr getan hat, als mir Schmerzen zuzufügen. Doch ich schüttle nur stumm den Kopf.
Es sind Tage vergangen und ich sitze mit gefalteten Händen im Schoss. Mutter Sunshine behält jede meiner Bewegungen im Auge. Ich kann auf eigene Faust nichts unternehmen und Cailan meldet sich nicht. Die Unruhe in meinem Körper rüttelt an meinen Knochen, bringt meine Eingeweiden zum Kochen. Mal ist sie im linken Zeh, dann in den Kniekehlen, im Nacken. Sie saust hin und her und ich bin ihr ausgeliefert. Es ist wie Folter und ich bin mir nicht sicher, ob es nicht genau das sein soll.
Befinde ich mich mitten in einem Experiment? Alles in mir schreit: ja. Alles hier erscheint mir falsch. Die leeren Gesichter, die mich umgeben, sagen mir, dass es ein fehlgeschlagenes Experiment ist und ich bin die letzte lebende Laborratte. Was ist es, das mich von den anderen unterscheidet? Warum ergeben sie sich in ihr Schicksal? Wo ist ihr Kampfgeist, ihr Wille zum Leben und nicht vor sich Hinvegetieren?
Der Unterricht kommt mir vor wie eine Farce, doch ich höre zu, sauge jede Information in mich auf, die ich aus der Luft greifen kann. Immer und immer wieder spiele ich den Wortwechsel in Cailans Zimmer durch. Ich habe nach Informationen gefragt und er nach Gefühlen. Nach meinen Gefühlen. Ist es möglich, dass all die Technik, all das Wissen, wie man Erinnerungen aus einem Gehirn saugt, ihnen keinen Zugang zu Gefühlen gibt?
Er hat nach Angst gefragt und Schmerz. Nicht körperlichem, geistigem. Sie können sicher meine Körpersignale deuten, aber vielleicht reicht es nicht aus. Brauchen sie mehr Informationen für ihre Analysen?
Cailan hat behauptet, dass er die Daten über meine Vergangenheit hat. Ist das nur ein krankes Spiel? Wollen sie meine Reaktion testen? Ich habe schon aufgegeben, als er nachmittags einfach vor mir auftaucht. Vielleicht ist es die Sehnsucht, die mir einen Streich spielt. Das Warten, das sich ewig hingezogen hat. Ein Gemisch von Glückshormonen, freigesetzt durch die Erfüllung meines so lange gehegten Wunsches. Was auch immer es ist, zum ersten Mal fällt mir auf, dass Cailan ein schöner Mann ist, obwohl er müde und verbraucht aussieht. Gehetzt hüpfen seine Augen rastlos hin und her.
„Hallo!“, sagt er leise und seine Augen kleben für einen Moment an meinem Gesicht, lungern an den dunklen Schatten. Auch mich hat der Schlaf in den meisten Nächten gemieden.
„Hallo, Cailan!“
Mehr sagen wir nicht. Er dreht sich um und ich folge ihm zu der Tür, die ich so lange angestarrt habe, dass sie sich eigentlich vor langer Zeit hätte auflösen müssen. Sie schwingt auf und wir treten hindurch. Ich drehe mich in die Richtung, in der sich Cailans Zimmer befinden müsste. Doch er wendet sich in eine andere.
Stumm geht er voran und schweigend folge ich ihm. Nur mein Herz schreit eine Warnung und klopft wild in meiner Brust. Cailan wird es rücksichtlos zerreißen. Da bin ich sicher. Und doch kann ich ihm nur folgen, den Schmerz erwarten und versuchen ihn abzufedern.
Cailan führt mich in einen Raum, der bis auf einen langen Tisch leer zu sein scheint. Erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich durchsichtige Wände, die nebeneinander verlaufen und das Zimmer in schmale Gänge teilen. Wo bin ich hier? Meine Augen tasten alles ab und bleiben an Kreisen hängen, die sich umeinander winden, im Zentrum ein schwarzer Punkt. Verwirrt sehe ich Cailan an und er sagt, ohne mich anzuschauen: „Das hier ist ein Raum für Schießübungen.“
„Schießübungen?“, frage ich vorsichtig.
„Für die Wachen, damit sie nicht einrosten. Wir haben hier noch nie einen Überfall gehabt, doch die … Bewohner hier müssen geschützt werden. Manchmal auch vor sich selbst.“
Ich erschaudere bei dem Zusatz.
„Nimm eine Waffe!“, sagt Cailan plötzlich.
„Wie bitte?“, frage ich verwirrt und mein Blick wandert zu einem Tisch, auf dem weiße Gegenstände in verschiedenen Größen liegen. Mein Herz schlägt schneller, als mein Gehirn das Wort ausspuckt: Pistolen. Ich weiche erschrocken zurück. Werkzeuge zum Töten!
„Du sollst eine Waffe in die Hand nehmen!“, wiederholt er ungeduldig.
Ich schlucke und erwidere leise: „Ich will nicht!“
Cailan greift nach einer der Pistolen, entlädt sie und richtet sie auf mich. „Ich sagte, nimm die Waffe in die Hand!“
Mit vor Angst geweiteten Augen nehme ich eine kleinere Pistole in die Hand, starre sie an. Wie kann ein Gerät, das Leben nehmen kann, nur so wenig wiegen? Mein Körper zittert. Dann höre ich einen Schuss, presse die Augen fest zusammen in Erwartung des Schmerzes. Doch als er nicht eintrifft, öffne ich vorsichtig meine Lider und sehe, dass Cailans Waffe raucht. Sie ist geradeaus gerichtet. Ich folge dem Lauf und sehe ein kleines Loch in dem schwarzen Punkt der Zielscheibe.
Cailan starrt mich an, richtet die Waffe