„Vor … vor dem Schmerz“, stotterte ich leise.
„Hattest du schon Schmerzen? Weißt du überhaupt, was Schmerzen sind?“ In Cailans Stimme schwingt Herausforderung.
„Ich kenne keinen körperlichen Schmerz. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt angeschossen oder erschossen zu werden“, gebe ich zu. Mein Körper bebt. Ich kann meine Muskeln nicht zum Stillstand bringen, mein rasendes Herz nicht beruhigen.
„Und doch hast du Angst davor?“
Ich nicke langsam.
„Auch vor dem Tod?“
Fürchte ich mich zu sterben? Das unkontrollierte Zittern meines Körpers schreit: Ja! „Ich will nicht sterben. Ich will leben“, flüstere ich und bin erstaunt über den Wahrheitsgehalt dieser Worte. Ich will leben. Ich habe Angst davor verletzt zu werden.
„Entsichere die Waffe und richte sie auf die Zielscheibe!“
Ich schlucke, versuche die Pistole zu entsichern, wie ich es bei Cailan zuvor gesehen habe. Als es leise klickt, schlucke ich hart, richte mit zitternden Händen die Waffe auf das Ziel und drücke ab. Der Rückstoß ist überraschend und ich stolpere nach hinten. Meine Kugel verfehlt das Ziel komplett und bohrt sich in die Wand.
Drei Schüsse folgen. Cailan trifft dreimal hintereinander in den schwarzen Punkt. Dann lässt er seine Waffe sinken, blickt mich an und sagt: „Ich möchte, dass du weißt, dass ich mein Ziel nie verfehle. Willst du das Geheimnis wissen? Den Grund, warum ich immer treffe?“
Langsam nicke ich, hoffe, dass es diese Reaktion ist, die er von mir will. Mein Blick liegt auf der Waffe, die immer noch auf der Suche nach einem Ziel ist.
„Ich stelle mir vor, ich habe den Menschen vor mir, den ich am meisten hasse, und drücke ab.“
Ich zucke zusammen, als sich seine Augen in meine bohren.
„Wer … wen hasst du so sehr?“, frage ich flüsternd.
„Ich gewähre dir heute eine Frage. Soll das deine heutige Frage sein?“
Ich schlucke. Die Kälte in Cailans Stimme macht mir Angst und ich schüttele langsam den Kopf. Während der ganzen Zeit, in der ich auf ihn gewartet habe, sind mir so viele Fragen durch den Kopf geschwirrt und jetzt japse ich nach nur einer, wie ein Fisch an Land nach Wasser.
Eine Frage, ich brauche eine Frage.
„K … können sich die White nach den Eingriffen wieder erholen? Die meisten sehen leer aus, apathisch. Können sie mit der Zeit lernen wieder normal zu werden? Zu empfinden?“ Wird Dannie je wieder die alte sein, hallt die umformulierte Frage in meinem Inneren.
Cailan starrt mich an, geht ein paar Schritte auf mich zu. Ich weiche vor der Härte in seinem Blick zurück, bis ich die Wand in meinem Rücken spüre. Als nur noch Zentimeter zwischen uns sind, hält er inne. Unsere Körper berühren sich nicht und doch kann ich die Hitze seines Körpers spüren, während seine Blicke Löcher in mich brennen.
Und wieder fühle ich eine unglaubliche Anziehungskraft, fange meine Hände ein, bevor sie sich in seine Brust krallen können. Das Gefühl, dass jeder Zentimeter zwischen uns zu viel ist, glüht in mir wie eine Sonne. Mein Körper reagiert auf Cailan. Haben wir uns früher gekannt oder ist es die Schönheit seines Körpers, die Härte seines Gesichtes, der Schmerz, den seine Augen in die Welt schreien, die mich anziehen? Ich zittere und unterdrücke den Drang, mich in seine Arme zu werfen.
„Eine komplette Löschung hinterlässt meist leere Geister. Viele werden dabei gebrochen. Die meisten. Eine White kann zu einem gewissen Maße den Unterschied von Gefühlen erlernen. Doch kompliziertere Empfindungen werden ihnen immer fremd bleiben.“ Seine Augen suchen mein Gesicht ab, harren auf meine Reaktion, jedes kleine Zeichen, das ihm verrät, wie es in meinem Inneren aussieht.
„Kompliziertere Empfindungen?“, frage ich leise … vorsichtig. Die Bedeutung dieser Worte kann meine letzte Hoffnung zerstören.
„Körperliche Bedürfnisse sind die einfachsten. Schwieriger wird es mit abstrakten Gefühlen. Eine White kann Hunger empfinden und Schmerz. Treue kann sie erlernen. Doch Empfindungen wie Hass und Liebe sind unmöglich. Oder Freundschaft …“
Das letzte Wort, das Cailan mit Genuss spricht, sagt mir, dass er von Dannie weiß. Er weiß, was ich getan habe. Und doch frage ich: „Was ist bei einer wiederholten Löschung?“
„Wiederholte Löschungen werden selten vorgenommen. Es muss ein Extremfall vorliegen. Wenn die Vorgänge zu nahe beieinander liegen, ist ein Wiederaufbau der kognitiven Fähigkeiten fast unmöglich.“
Ich höre Freude in Cailans Stimme, als mir Tränen die Wange hinunterlaufen.
Wie schon zuvor, streckt er seine Hand aus, fängt eine Träne auf und starrt mich an. „Weinen ist zum Beispiel etwas, das den meisten Whites versagt ist. Du glaubst gar nicht, was für ein Wunder es ist, dass du Angst haben und geistigen Schmerz empfinden kannst. Und dass du noch die Fähigkeit besitzt zu weinen.“ Seine Finger streichen über meine Wange, fahren zu meinem Hals hinunter und er nimmt mir die wenigen Zentimeter, die ich mir jetzt mehr als alles andere wieder wünsche. Sein Körper presst sich gegen meinen. Seine Hände gehen auf Wanderschaft.
Ist es das, was Sunshine befürchtet hat? Wird Cailan mich hier und jetzt beschmutzen und sich seine Befriedigung holen? Er beugt sich zu mir herunter, seine Lippen berühren sanft mein Ohr und er flüstert: „Sollen wir hier und jetzt herausfinden, was du noch empfinden kannst? Wird dein Körper für mich in Lust brennen?“
Ich keuche auf bei seinen Worten. Sein Atem auf meiner Haut fühlt sich an wie tausend kleine Nadeln. Mein Unterleib zieht sich zusammen und ich … ich … ich will, dass er mich berührt, strecke meine Hände aus, taste seine Seiten hoch, berühre seine Schultern, seine Wange.
Er zieht die Luft durch die Zähne. Wir stöhnen beide. Er verkrampft sich und blickt mir in die Augen. Ich sehe in ihm die Flamme, die ich in mir spüre. Ist das Lust? Begierde? Sein Daumen fährt über meine Lippen und ich erzittere unter der Berührung, will mehr. Doch Cailan zieht sich ruckartig zurück. Zischt, als hätte er sich verbrannt. Je weiter er sich von mir entfernt, desto mehr will ich ihn berühren.
Es ist fast schmerzhaft. Ich nehme diese unbändigen Gefühle, lege sie in Ketten und schließe sie tief in mir ein. Zu meiner Überraschung muss ich feststellen, dass das kleine Licht in mir heller lodert. Teile von mir erhellt, die ich nicht sehen will. Nicht jetzt. Und doch breitet sich alles klar vor mir aus. Cailan ist schön. Ich fühle mich zu ihm hingezogen. Und wenn Sunshines ‚Beschmutzen‘ Cailans Körpernähe bedeutet, will ich, dass er mich beschmutzt.
Ich zucke zurück vor diesen mächtigen Gefühlen.
„Ich bringe dich wieder in dein Quartier … für heute“, sagt Cailan kalt. Nichts mehr zeugt von dem Moment der Hitze, in dem auch er sich für einen Augenblick verloren hat, da bin ich mir sicher.
Verwirrt trete ich durch die Tür, drehe mich um und sehe Cailan hinter der Wand verschwinden. Das Ende meiner Glas-Welt, ist kein Ende, sondern der Anfang einer erschreckenden Welt voller ambivalenter Gefühle. Wäre es einfacher keine Angst vor einem Menschen zu haben und ihm körperlich nahe sein zu wollen? Wäre eine Welt, in der ich nur von simpelsten Gefühlen geleitet werden würde, in der ich noch an die Ideale glauben könnte, die mir Aira so schmackhaft gemacht hat, schöner?
Dann blicke ich in die leeren Gesichter meiner Mitinsassen und weiß, dass ich das nicht möchte. Dass ich Schmerz der Apathie vorziehe. Ich blicke auf meine Handgelenke und frage mich jedoch, wie viel Schmerzen ich ertragen kann, bevor ich zerbreche.
Kapitel 04 - Freier Fall
Ich bin unruhig, kann mich nicht konzentrieren. Die Angst davor, Cailan wiederzusehen, rumort in mir. Furcht vor dem, was unser nächstes Treffen mir offenbaren wird. Und doch sehne ich