„Sie … sie haben meine Schwester.“
Ich vergesse, wie man atmet. Eine Schwester. Eine von den Insassinnen hat einen Bruder, der sie retten will. Gibt es jemand da draußen, der mich, wenn auch nicht retten, vielleicht wiedersehen will? Liege ich irgendjemandem am Herzen, trotz meiner Schuld? Ich blicke auf mein blutverschmiertes Armband.
„Welche … wie wurde deine Schwester eingestuft?“, flüstere ich und die Zeichnung des Rolltreppenlabyrinths brennt in der Innenseite meines BHs.
„Sie … sie haben sie zu einer White erklärt. Sie haben uns angelogen. Sie haben gesagt, wenn Mira sich stellt, dann würde sie mildernde Umstände bekommen. Man sagte, sie hätte aus Selbstverteidigung gehandelt und würde die mildeste Strafe bekommen. Sie würden ihr als Blue nur die schlimmen Erinnerungen nehmen und sie wieder zurück in die Gesellschaft einführen.“ Kirrils Stimme zittert. Er geht in die Knie. Sein Gesicht ist weiß wie der Schnee. Keine Fröhlichkeit, keine Grausamkeit, nur noch Schmerz ist zu sehen.
Der Mensch Kirril verschwimmt vor mir. Kann eine Person so vielschichtig sein? Was definiert Kirril, macht ihn aus? Ich habe geglaubt, dass es Freundlichkeit und Fröhlichkeit seien. Doch können diese Eigenschaften auf einem Boden der Grausamkeit wachsen? Oder ist der Schmerz Nährboden für Grausamkeit geworden? Die Fröhlichkeit begraben oder zerfressen von der Falschheit anderer?
Ist Cailan vielleicht auch gütig gewesen? Habe ich nicht nur seine Schwester, sondern auch Cailans guten Kern auf dem Gewissen?
„Sie hat … sie hat es für mich getan. Sie hat ihn wegen mir getötet.“
Warum wird mir schlecht? Warum tragen mich meine Beine zu Kirril? Warum nehme ich den Mann in den Arm, der mich alles kosten wird, was ich mir in kurzer Zeit erarbeitet habe?
„Wie sieht deine Schwester aus? Kannst du sie beschreiben?“, höre ich mich fragen und bin mir nicht sicher warum. Habe ich mich schon entschieden? Werde ich ihn zur Anstalt begleiten?
„Ich habe ein Foto. Es ist alt … aber es ist alles, was ich besitze.“ Kirril greift in seine Brusttasche und zeigt mir das Bild seiner Schwester.
Ich drehe mich um und übergebe mich in den Schnee. Mein Magen ist leer und doch kann ich nicht aufhören zu würgen.
„Was ist mit dir?“, fragt Kirril besorgt und ich weiß, dass der nette Junge noch in ihm steckt.
Sein Lächeln … ich weiß jetzt, warum es mir so bekannt vorgekommen ist.
Das Mädchen auf dem Bild ist Dannie.
Als ich nur noch unkontrolliert atmen kann, drückt Kirril mir ein Behältnis an die Lippen. Es brennt, als die Flüssigkeit meine Kehle heruntergleitet. Doch die Spannung löst sich etwas in meinem Körper. Ich verdränge das Bild von einer goldenen Flüssigkeit und einem filigranen, zerbrochenen Glas.
Schweigend starrt Kirril mich an und ich weiß nicht, wie viel ich sagen kann, ohne ihn zu brechen und ihm alle Hoffnung zu nehmen.
Nach langem Schweigen sagt Kirril: „Du kennst sie. Du kennst Mira.“
Als ich nichts erwidere, bohren sich seine Finger in das Fleisch meiner Oberarme.
„Sag mir, was du weißt!“, zischt er. In seinen Augen brennt ein Feuer, das alles verschlingen könnte.
„Manchmal ist Unwissenheit besser als Gewissheit“, flüstere ich.
„… Ist sie tot …?“, fragt er schwach, kaum hörbar.
Wenn ich jetzt nicke, wenn ich jetzt ihren geistigen Tod als körperlich deklariere, bin ich frei.
Entsetzen über meinen Egoismus erfüllt mich. Eine Lüge hätte Dannie retten können. Doch ich habe mich für die Wahrheit entschieden, um mein Gewissen zu erleichtern. Es ist die falsche Entscheidung gewesen. Aber etwas hält mich zurück. Ein verletztes, zerbrochenes Ich, das weiß, wie es ist, in der Dunkelheit zu leben und nach der Wahrheit zu streben? Ich atme tief ein und aus, bete, dass es die richtige Entscheidung ist.
„Dannie … Mira … sie, sie hat sich an etwas erinnert.“
Ein Leuchten des Glücks tritt in Kirrils Augen und es schmerzt, als ich diese neugeborene Hoffnung noch in ihrem Kindsbett erwürge.
„Sie hat gelitten und die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich gezogen. Sie … sie haben eine zweite Extraktion durchgeführt. Danach war sie … wie die anderen.“
Schmerz tanzt über Kirrils Gesicht, aber ich sehe noch einen Glimmer der Hoffnung.
Ich schließe die Augen und hole zum finalen Schlag aus. „Die meisten Whites sind apathisch, reglos, wie leere Hüllen. Dannie war nicht so. Sie war wie ich. Nein, sie war mehr als ich. Sie war fröhlich und freundlich. Sie hat mich willkommen geheißen und sich um mich gekümmert. Bis zu dem Tag, an dem sie sich plötzlich an etwas erinnerte. Ein Gefühl. Man holte sie ab und als ich sie das nächste Mal sah, erkannte sie mich nicht. Ihr Lächeln war verschwunden und das Licht in ihren Augen erloschen.“
Kirril zittert, er packt mich am Kragen, schüttelt mich und schreit: „Warum hast du ihr nicht geholfen? Warum hast du sie nicht beschützt?“
Ich weine und habe keine Antwort auf die Fragen, die ich mir selbst tausend Mal gestellt habe.
Dann lässt mich Kirril los, er weint und sagt: „Es tut mir leid. Du kannst nichts dafür. Es ist nicht deine Schuld. Ich bin schuld, ich hätte ihr helfen müssen. Sie haben sie zwei Mal getötet. Ich habe sie zwei Mal sterben lassen.“
Scham hält mich zurück und ich umgarne die Wahrheit mit Stille. Kirrils Worte treffen auf mich zu. Ich habe Dannie sterben lassen.
Nein!
Mit meiner Wahrheitsbesessenheit habe ich Dannie getötet. Das muss der Grund für meine folgenden Worte sein: „Die Erinnerungen werden in sogenannten Zeugen zwischengespeichert. Ein Jahr lang. Sie gehen in dieser Zeit alle Erinnerungen durch und verifizieren die Schuldigkeit des Insassen.“ Bin ich gnädig oder grausam?
„Wenn wir diesen Zeugen finden, können wir Miras Erinnerungen wiederherstellen?“, fragt Kirril hoffnungsvoll und ich sehe einen verzweifelten Jungen vor mir, nicht mehr den grausamen Mann.
„Die Implementierung ist sehr selten und nur in wenigen Fällen erfolgreich“, sage ich und denke an die nächtlichen Schreie, die Panik und Angst, die in Dannies Gesicht regiert haben, nachdem sie sich nur an einen Bruchteil erinnerte. Was würde passieren, wenn sie wieder alles wüsste?
Mein Blick gleitet zu Kirril. Was ist Dannie zugestoßen? Was hat sie getan, um ihren Bruder zu beschützen? Doch da ich auf meinen Geheimnissen schlafe, habe ich kein Recht Kirril nach seinen zu fragen.
„Aber es ist nicht unmöglich!“
Ich sage nicht nein. Ich kenne keine Statistiken. Mein Gehirn rast und die Worte verlassen meinen Mund ungefiltert: „Vielleicht schaffe ich es, Dannie rauszuholen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich an die Zeugen komme, geschweige denn an den richtigen Zeugen.“
„Kennst du jemanden, der es wissen könnte?“
Langsam nicke ich.
„Wer ist es?“
„Cailan van Matthews, derjenige, der mich freigelassen hat. Derjenige, der mich jagt.“ Ich presse die Lippen aufeinander. Kann ich, wenn sich die Chance ergibt, Cailan wirklich noch mehr antun? Ihn entführen, aus ihm Informationen herauspressen?
„Warum jagt er dich, wenn er dich freigelassen hat?“, fragt Kirril.
„Er hat mich freigelassen, damit er mich jagen kann. Er sagt, ich bin schuld an dem Tod seiner neunjährigen Schwester.“ Ich blicke zu Boden und verliere mich in der Unschuld des weißen Schnees. Ich spüre Kirrils Blick auf mir.
Nach einem Moment des unendlichen Schweigens, sagt er: „Mir ist egal, was du getan hast.“
Solange