Ich höre einen Schuss, fühle die Kugel in meine Schulter eindringen und schreie. Meine Welt färbt sich rot, Schmerz ist alles, was mich ausmacht. Ich keuche, überlasse mich meinem Instinkt, versinke in mir selbst.
Mein Körper dreht sich im Kreis, findet einen schwarzen Punkt, der immer größer wird. Cailan. Mein Herzschlag flimmert. Ich stolpere rückwärts, kneife meine Augen gegen den grellen Schnee zu, drehe mich um, will rennen, doch meine Füße treten ins Leere. Ich falle wieder, glaube zu hören, wie Cailan meinen Namen ruft. Die Jacke plustert sich auf, doch heiße Luft strömt aus dem Loch, das Cailans Kugel in mich und die Jacke gerissen hat.
Ich fliege, falle, bin der Schmerz selbst. Ich pralle auf, federe ab und die Welt dreht sich um mich. Immer schneller. Ich bekomme keine Luft. Blau und Weiß wechseln sich immer wieder ab, dann liege ich still und Schwärze nimmt meinen Geist ein.
Schmerz ist es, der mich weckt. Ich öffne die Augen und erblicke Blau. Es war kein Traum, schreit der Schmerz in meiner Schulter. Es ist wirklich passiert, murmelt mein lädierter Körper. Ich richte mich vorsichtig auf und wimmere unter dem Schmerz, der sich an mich krallt und mich wohl nie wieder loslassen wird. Der Schnee um mich herum ist geschmolzen. Die Jacke hat trotz dem Loch einen Großteil vom Sturz abgefangen. Nur mein linker Arm hat etwas abbekommen. Ich kann ihn nicht bewegen. Leblos hängt er an meiner Seite, als ich mich aufrappele.
Ich habe immer noch den Rucksack um meine Schulter hängen. Er ist zerbeult und hat Risse. Vorsichtig nehme ich ihn ab, öffne ihn und finde eine Metallflasche mit einer Flüssigkeit. Auch sie hat Beulen, scheint jedoch sonst noch intakt. Außerdem finde ich noch zerquetschte Energieriegel, die aus ihrer Verpackung herausquellen. Cailan will sichergehen, dass es seine Hand ist, die mich tötet, und nicht Durst oder Hunger.
Hastig nehme ich einen Schluck aus der Flasche. Die Flüssigkeit brennt in meiner Kehle, wärmt meinen Körper und drängt den Schmerz zurück. Er ist noch da, doch er macht Platz für Gedanken und andere Gefühle. Ich blicke zurück, sehe einen steilen Abhang. Wie tief bin ich gefallen? Wird Cailan mir folgen? Ich reiße die Verpackung eines Riegels auf, schlinge ihn gierig hinunter. Dann hänge ich mir den Rucksack über meine unverletzte Schulter und zwinge meinen Körper weiter. Ich kann weder rennen noch laufen. Alles was mir gelingt, ist ein Schritt nach dem anderen. Also setze ich einen Fuß vor den anderen.
Warum lege ich mich nicht einfach in den Schnee und schlafe für immer ein? Wenn Cailan die Wahrheit gesagt hat und ich für den Tod eines neunjährigen Mädchens verantwortlich bin, dann habe ich den Tod verdient. Doch Cailan will, dass ich lebe, er will mich jagen und ein Teil von mir will für ihn leben. Ihm die Chance auf Rache gewähren. Und ein anderer Teil, der weder Schuld noch Scham kennt, krallt sich am Leben fest. Weigert sich Cailan zu glauben.
Du bist nicht mehr diese Frau. Du bist ein neuer Mensch. Du hast mit deinem alten Leben bezahlt, was auch in der Vergangenheit passiert sein mag. Der Gedanke, an den ich nicht wirklich glauben kann, lullt mich ein. Wenn Cailan mich das nächste Mal findet, wird er mich töten? Immer wieder drehen sich meine Gedanken umeinander. Sünde. Tod. Läuterung. Leben. Cailan. Klara. Anuva.
Die Sonne sinkt immer tiefer. Es wird Abend und ich setze immer noch einen Fuß vor den anderen, fixiere meinen Blick im Schnee. Doch dann verlässt meine Beine jede Kraft. Ich falle auf die Knie und richte voller Verzweiflung meinen Blick nach oben. Was suche ich dort? Was auch immer ich mir erhofft habe, ist es nicht das. Ich schnappe nach Luft, mein Herz schlägt schneller und ich glaube das erste Mal wahrhafte Schönheit zu sehen.
Die Sonne küsst den weißen Rand der Berge. Als würde sie sich an den spitzen Kanten aufreißen, fließt rotes Blut aus ihr und sie taucht das Blau des Himmels um sich in ein feuerrotes Licht. Ich falle auf den Rücken, die Augen immer noch an den Sonnenuntergang geheftet, die Erkenntnis von wahrer Schönheit im Herzen. Rot wird zu Rosa, leuchtet orange auf. Hellblau macht Dunkelblau Platz und als die Sonne ganz verschwunden ist, breitet sich nicht Schwarz aus, sondern ein Meer von kleinen Sonnen. Sie glitzern und funkeln. Die Nacht hier ist nicht Schwarz, der Schnee leuchtet sanft, die Sterne tanzen über mir.
Wie lange es dauert, bis der wundervolle Anblick von Schwärze überlagert wird, und ich erneut das Bewusstsein verliere, weiß ich nicht. Aber was auch immer war. Was auch immer noch kommen mag, ich bin dankbar, geboren worden zu sein. Dankbar, dass mir jemand die Chance gegeben hat, so etwas Schönes sehen zu dürfen. Dann fallen meine Augen zu und die wahre Schwärze legt sich auf mich, deckt mich zu. Wird Cailan enttäuscht sein, wenn ich hier und jetzt sterbe, ist mein letzter Gedanke. Dann drifte ich in die Dunkelheit ab. Wohl für immer …
Aufgeregte Stimmen wecken mich. Anstatt Kälte, umgibt mich Wärme. Wo bin ich? Hat Cailan mich gefunden?
„Wir müssen ihr helfen, sie wird sonst sterben. Sie ist beinahe gestorben!“, zischt eine Stimme. Sie klingt tief, aber trotzdem jung.
„Sie trägt ein weißes Armband! Sie ist eine von ihnen. Das ist eine verfluchte Schusswunde in ihrer Schulter! Eine Schusswunde! Sie ist sicher geflohen. Jäger werden kommen und sie suchen. Wenn sie uns hier finden, werden sie auch uns töten. Uns alle!“
„Keiner von uns ist unschuldig. Außerdem werden sie uns nicht töten. Sie werden uns richten.“ Trotz des dunklen Gehalts sind die Worte ruhig gesprochen. Die tiefe Ruhe, das Gleichgewicht, das dieser Mann in Worten transportiert, die grausam sein müssten, ist erschreckend.
„Nein, du hast recht. Töten werden sie uns nicht. In sabbernde Zombies werden sie uns verwandeln. All unsere Erinnerungen werden sie uns nehmen, nur weil wir einen Fehler begangen haben. Einen!“ Die dritte Stimme trägt Zorn in sich, keine Angst.
„Wir werden schuld sein an ihrem Tod, wenn wir ihr nicht helfen. Bevor die Jäger sie finden, wird sie erfrieren oder verdursten! Dann sind wir wahre Mörder“, sagt die erste Stimme und schürt Hoffnung in meinem gebrochenen Herzen.
„Du hast keine Ahnung, Junge, wovon du redest! Wir alle werden weiß sein wie der Schnee, einfach nur, weil wir uns gegen das System aufgelehnt haben“, sagt die Wut.
„Das hört sich an, als hätten wir eine Revolution geplant. Wir sind einfach nur abgehauen“, fügt die Angst hinzu.
„Das reicht völlig. Regime, Diktatoren, Cherub, sie sind alle gleich. Was ihnen gefährlich werden kann, löschen sie aus. Meine Nichte, sie hat in der neunten Klasse einen kritischen Aufsatz geschrieben und wurde verurteilt. Sie war 14 Jahre alt und der Lehrer hat sie einfach ausgeliefert“, schreit die Wut in die Welt hinaus.
„In dieser verkommenen Gesellschaft hat doch jeder schon eine Gehirnwäsche bekommen. Nur Outlaws, wie wir, sind noch unberührt. Wenn sie uns in die Finger kriegen, ist der freie Wille der Menschheit gestorben“, fügt der Argwohn mit Angst hinzu.
„Wenn der freie Wille der Menschheit nicht einmal einem jungen Mädchen helfen kann … wenn der freie Wille der Menschheit sie einfach dem Tod überlässt, sollte er vielleicht nicht mehr leben“, wirft ihnen die hoffnungsvolle Jugend entgegen.
„Junge, du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Idealismus ist etwas Gefährliches. Woraus, glaubst du, sind die Anstalten entstanden? Was, glaubst du, wird den Menschen dort in die Gehirne gepflanzt? Ideologien, die nicht mit dem menschlichen Sein kombinierbar sind. Sie rösten die Gehirne so oft, bis nur noch Mus übrig ist. Vor allem bei den Whites haben sie alles ausgebrannt. Die da kann weniger empfinden als eine Pflanze, da bin ich mir sicher!“
Die Worte der Wut schneiden in mein Herz und widerlegen ihre Aussage. Ich fühle. Doch ich wünschte, seine Worte wären wahr. Ich wünschte, die Art, wie diese Menschen über mich sprechen, würde nicht wie Rasiermesser in mein Fleisch schneiden. Ich öffne den Mund, doch alles, was herauskommt, ist ein Husten. Alles um mich verstummt. Ich kann ihre Augen auf mir spüren. Als ich wieder Luft bekomme, versuche ich es noch einmal: „Ich werde nicht hierbleiben. Ich will niemanden in Gefahr bringen.“ Ich erwarte keinen Applaus und doch tut die Stille weh. Mühsam setze ich mich auf und