„Cailan … wohin gehen wir?“ Ich bin nervös, aufgeregt und ängstlich zu gleich. Mein Herz klopft wild in meiner Brust und droht unter all den Gefühlen zu zerbersten.
„Ich will dir etwas zeigen“, ist alles, was er sagt.
Wir laufen dunkle Gänge entlang, steigen Stufen hoch, die sich nicht bewegen. Wir biegen rechts ab, links. So oft, dass ich vergesse, wo ich bin. Dann ist da eine schmale Gittertreppe, die zu einer schweren Eisentür führt. Etwas stimmt nicht. Mein Herz klopft wild, flüstert mir zu, ich solle umdrehen und um mein Leben rennen. Doch stattdessen folge ich Cailan. Er öffnet die Tür und lässt mich zuerst hindurchtreten. Mein Herz bleibt mir im Hals stecken. Der Anblick ist atemberaubend und fürchterlich. Weiß, wo das Auge hinreicht. Spitze Gipfel ragen schneebedeckt in einen hellblauen Himmel.
Ich weiß, was ein Himmel ist. Unendlich weit, erstreckt er sich über mir. Der Wind ist eiskalt, reißt an meinen Haaren und an meiner Kleidung. Freiheit, schreit mein Herz und ich trete mit zitternden Beinen an die Brüstung. Mein Gehirn schaltet die Kälte aus und meine Augen können sich nicht sattsehen.
„Wir sind im Himalaya. Hoch oben in den Bergen. Man sagt, vor vielen Jahren seien hier Menschen zum Vergnügen hochgewandert. Scharenweise. Doch als man beschloss hier eines der Refugien zu bauen, wurden die Wege geschlossen und die Hütten dem Verfall preisgegeben. Die Bewohner sollen umgesiedelt worden sein.“
Ich zittere vor Kälte, Angst, aber auch aus Erwartung.
„Zieh dich aus!“, befiehlt Cailan plötzlich.
Ich drehe mich erschrocken um und blicke in einen Lauf.
„Zieh dich aus!“, wiederholt Cailan, entsichert langsam die Waffe und ich verstehe, wozu das Schusstraining gut gewesen ist. Cailan wollte, dass ich weiß, was eine Waffe ist und was er damit tun kann.
Ich gehorche, lege die dünnen Schichten meiner weißen Kleidung ab, bis ich nur mit BH und Schlüpfer am Leib in der eisigen Kälte stehe. Der Frost frisst Teile meiner Haut und doch ist es Angst, die mich völlig vereinnahmt. Ich mache Anstalt den BH zu öffnen, doch Cailan bellt: „Das genügt!“
Erleichterung erfüllt mich und ein wenig Enttäuschung. Warum bin ich enttäuscht?
Er wirft Kleidung vor meine Füße. Eine dicke, weiße Hose, feste Schuhe, Socken und eine weiße Jacke mit einem roten Punkt. Dünne, schwarze Kreise umringen die feurige Mitte. Ich kenne dieses Zeichen. Es ist eine Zielscheibe. Auf der Jacke ist eine Zielscheibe! Pure Angst fließt durch meine Venen, als die Erkenntnis einschlägt.
„Zieh das an!“, sagt Cailan kalt und ich gehorche ihm mit klammen Fingern.
Als ich in Hose und Jacke, Socken und Schuhe geschlüpft bin, umgibt mich Wärme. Doch ich kann sie nicht genießen, würde mir am liebsten die Jacke vom Leib reißen und mich nackt in den eisigen Wind stellen. Doch der Lauf, der immer noch auf mich gerichtet ist, hindert mich daran.
Cailan tritt immer näher an mich heran, unsere Körper berühren sich, doch ich kann ihn nicht durch meine gepolsterte Kleidung fühlen. Er hält jetzt die Pistole gegen meine Schläfe und flüstert: „Es wäre so viel einfacher, wenn du nicht so schön wärst. Wenn du verlogen und abscheulich wärst.“
Ich spanne mich an, mein Blut rauscht durch meine Ohren.
„Du bist intelligent und eine Überlebenskünstlerin. Das ist gut so. Denn wo bliebe sonst der Spaß? Möchtest du immer noch wissen, warum du hier bist?“, fragt er und ich nicke stumm.
„Du bist hier, weil wegen dir ein neunjähriges Kind gestorben ist. Ein Mädchen. Süßer als jeder Engel im Himmel. Ihr Name war Klara van Matthews. Sie war meine Schwester.“
Mein Herz bleibt stehen. Ich habe ein neunjähriges Mädchen getötet?
„Der Richterspruch war eindeutig: schuldig. Und doch bist du hier, in diesem verfluchten Refugium. Dir geht es gut. Du weißt nichts mehr von deiner Schuld. Aber Klara ist tot. Dieser Gedanke macht mich wahnsinnig. Deine Existenz macht mich wahnsinnig. Es wird wie ein Fluchtversuch aussehen und man wird dich jagen. Ich werde dich jagen, wie Wild erlegen und ausweiden. Weißt du noch, was ich dir über meine Zielsicherheit gesagt habe?“
Natürlich weiß ich es noch. Ich habe die Antwort bereits an jenem Tag gespürt.
„Du bist es. Du bist der Mensch, den ich am meisten hasse.“ Cailan drückt mir etwas Schweres an die Brust, dann fühle ich einen Stoß und bin frei, falle über die Brüstung und höre noch Cailans Worte mir folgen: „Überlebe, Anuva! Damit ich dich bis ans Ende der Welt jagen kann!“
Kalter Wind peitscht mir ins Gesicht. Ich falle und schreie. Wie soll irgendjemand diesen Sturz überleben? Dann umgibt mich warme Luft. Meine Jacke und Hose plustern sich wie Ballons auf. Doch der Boden kommt immer noch rasend näher. Ich schließe panisch die Augen. In wenigen Herzschlägen bin ich tot. Ich fürchte um mein Leben und habe Angst vor den Schmerzen, bitte um einen schnellen Tod und will doch überleben. Warum?
Der Aufprall presst alle Luft aus meinen Lungen und es dauert, bis meine abgehackte Atmung genug Sauerstoff in mein System bekommt, um mein Gehirn zu versorgen. Mein Körper schmerzt, doch ich kann Arme und Beine bewegen. Ein Zischen erklingt in meinen Ohren und ich schreie, hyperventiliere und weine. Meine Hände ertasten etwas Weiches, Kaltes. Es zerrinnt unter meinen Fingern zu Wasser. Schnee?
Das Zischen wird lauter und die weiße, kalte Watte schmilzt um mich herum, weicht die Erde auf und das reine Weiß meiner Kleidung bekommt braune Flecken. Schwer atmend, fühle ich, wie sich der Stoff meiner Jacke und Hose wieder enger um mich legt. Ich lache und weine, als ich den Ursprung des furchtbaren Geräusches erkenne. Es ist meine Kleidung! Sie lässt die warme Luft entfliehen.
Noch geistig und körperlich betäubt, sehe ich mich um und finde etwas im Schnee liegen. Das Ding, das mir Cailan gegeben hat. Cailan … mein Geist zuckt vor dem Namen zurück, weigert sich darüber nachzudenken, was passiert ist, was er gesagt hat. Ich krabbele auf den Gegenstand zu, ertaste ihn mit zitternden Händen. Es ist … es ist ein Rucksack.
Als ich ihn öffnen will, höre ich sie: Schüsse. Kugeln dringen in die Erde neben und hinter mir. Ich packe den Rucksack, springe auf und laufe. Renne um mein Leben. Warum, weiß ich nicht. Die Sonne reflektiert sich im Schnee und blendet mich. Habe ich doch den Tod verdient, weigert sich etwas in mir einfach so zu sterben. Das Licht, das mich schon so oft ausgelacht hat, brennt heller, verleiht mir Kraft und ich glaube, das Gesicht eines jungen Mädchens zu sehen.
Cailans Worte hallen wie Gewehrschüsse in mir. Und sie verfehlen ihr Ziel nicht: mein Herz. Ich habe nicht nur gemordet. Ich bin schuld an dem Tod eines Kindes! Ist sie es, die mich aus dem Licht in mir vorwurfsvoll anstarrt? Ist das Klara? Habe ich an dem Gesicht meines Opfers festgehalten, als man mir alles andere genommen hat?
Was ist passiert? Wie konnte ich ein Kind ermorden? Wieso? Fragen zischen durch meinen Geist, während meine Beine mich immer schneller durch den Schnee tragen. Ich renne blind, zu grell sind Sonne und Schnee für meine Augen. Die kalte Luft brennt in meinen Lungen. Doch ich höre noch die Schüsse, stelle mir vor, wie die Kugeln mich durchbohren, wie sie die Zielscheibe an der Wand durchlöchert haben.
Wo wird Cailan hinzielen? Mein Herz? Mein Leben mit einem Schuss beenden? Oder wird er mich quälen, mir in die Beine schießen, mich verkrüppeln und zusehen, wie ich im weißen Schnee ausblute, wie sich langsam um mich alles rot färbt und mir aus meiner Vergangenheit erzählen? Mir sagen, was ich seiner Schwester angetan habe?
Erschrocken stelle ich fest, dass ein Teil von mir genau das will. Wissen, erfahren und dann für meine Sünden leiden, um geläutert zu sterben. Auch wenn der Gedanke verführerisch ist, tragen meine schmerzenden Beine mich weiter und weiter.
Anuva, hallt der Name in meinem Kopf. Ich taste ihn ab, suche nach etwas Vertrautem und finde nur Befremdung in mir. War mein Name wirklich Anuva?
Ich keuche, schnappe nach Luft, mein Herz schlägt zu schnell, mir wird schlecht. Ich halte an, sehe mich um und finde nur