Gelöscht - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabina S. Schneider
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742730121
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und wieder erlebe, wie Dannie sich gegen die Männer wehrt. Dannie hatte die Wiedergeburt nicht gewollt. Und etwas in mir flüstert von einem alten Ich, das nicht sterben wollte. Das sich so sehr an eine Erinnerung krallte, dass es selbst die Wiedergeburt überlebt hat.

      Das Licht in mir flackert auf. Jetzt in diesem Moment ist es in Reichweite, doch ich fürchte mich, verstecke mich vor einer Realität, die ich nicht anerkennen will. Ich mag die Welt, die Sunshine für mich gemalt hat. Eine Welt, in der niemand lügt, betrügt, anderen schadet … doch je fester ich mich an diese ideale Welt klammere, desto schneller zerrinnt sie in meiner Hand.

      Das erste, was mir in dieser idealen Gesellschaft erzählt worden ist, war eine Lüge. Es ist unser Wille. Dannie hat es nicht gewollt. Meine Hand zittert, als mir klar wird, dass ich es nicht gewollt habe. Wahre Schuld überschwemmt mich und ich verstehe nicht nur die Bedeutung von Verrat, ich empfinde ihn. Ich habe meine einzige Freundin für eine falsche Erleichterung eines Gewissens verkauft, das nur eine Farce ist.

      Ich starre auf meine Hände und frage mich, wen ich getötet habe, um das weiße Armband zu verdienen. Meine Augen wandern von meinen schuldigen Händen, die sich nicht erinnern, den Boden entlang und suchen Glaswände, finden jedoch nur weiße Wände. Wo bin ich? Ich höre Schritte, renne zu einer Tür und finde mich in einer Toilette wieder. Schnell eile ich in eine Kabine und schließe hinter mir ab.

      Der eigene Atem raschelt in meinen Ohren, als ich höre, wie die Tür geöffnet wird und Stimmen mein Röcheln überdecken.

      „Hast du Claudia gesehen? Sie glaubt doch wirklich etwas Besseres zu sein, nur weil sie ein schwarzes Armband trägt.“

      „Nun, sie ist etwas Besseres …“

      „Nur weil ihre Eltern Geld haben, macht sie das nicht zu etwas Besserem!“

      „Sie haben ihr verbessertes analytisches Denken und Zahlenverständnis gekauft.“

      „Sie hätten ihr Bescheidenheit implantieren lassen sollen. Was der Kuh fehlt, ist nicht analytisches Denken, sondern Menschenverstand und ein Herz!“

      „Du bist doch auch …“ Ein Lachen klingt in dem Vorwurf mit.

      „Haha … erwischt“, erwidert die andere und legt die Gehässigkeit wie eine zweite Haut ab, „lass uns über etwas anderes reden. Hast du mitbekommen, dass Maria vorhin rumgeschrien hat, es sei eine White hier? Bei uns im siebten Stock! Lächerlich! Die würden doch keine Mörder hier einfach hochlassen. Wir bezahlen gutes Geld, um Verbesserungen vorzunehmen. Die würden nie wagen, uns mit solchem Dreck in Berührung kommen zu lassen.“ Ihre Worte sind hart, treffen mich in meiner verwundeten Brust. Doch in der Stimme ist keine Gemeinheit zu hören.

      „Ist Maria nicht eine Red?“, fragt die zweite nachdenklich.

      „Ja, sie ist hier, weil sie die Erinnerung, ein Opfer gewesen zu sein, auslöschen will. Aber es scheint sich bei ihr, um einen schwierigen Fall zu handeln. Wenn sie sich auch nicht mehr daran erinnert, was passiert ist, wird sie die Angst nicht los.“ Höre ich nach den kalten Worten Sympathie in der Stimme des gehässigen Mädchens?

      „Ja, Gefühle sind schwerer auszulöschen als Erinnerungen. Es ist wirklich nicht fair. Wenn man bedenkt, dass die Verbrecher sich an ihre Taten nicht mehr erinnern und einfach so weiterleben. Sie dürfen sogar einen Neuanfang machen, während die Opfer immer wieder unter unerklärlichen Panikattacken leiden.“ Mein Herz schlägt hart gegen meine Brust, es schmerzt und ich bin mir sicher, dass es jeden Moment aus mir herausbluten wird. Ich presse beide Hände dagegen, will es beruhigen und daran hindern mich zu verlassen. Mein Gehirn fühlt sich taub an, weigert sich das Gehörte zu verarbeiten.

      Ist meine ideale Welt eine Lüge? Ist nichts, was ich geglaubt habe, wahr? Übelkeit breitet sich in meinem Magen aus, meine linke Hand umklammert mein rechtes Handgelenk und streichelt sanft über die Unebenheiten der Haut, ertastet die Narben. Ich wünschte, ich wäre nicht mehr, würde mich auflösen und nicht mehr existieren.

      „Aber das Gute ist, dass sie unter Aufsicht sind und für immer hier eingeschlossen. Wenn unsere Behandlung fertig ist, dürfen wir wieder zurück in die Gesellschaft. Die White bleiben hier. Man sagt, dass sie aussehen wie Geister und einigen schon so oft Erinnerungen gelöscht wurden, dass sie nur noch vor sich hinstarren und sabbern können.“ Ein fröhliches Lachen folgt den harten Worten.

      Dannies leere Augen, die ich versucht habe zu verdrängen, erfüllen mich. Kann die Zeit wieder Licht in ihre Augen bringen? Noch habe ich niemanden gesehen, der wahrhafte Besserungen gezeigt hat. Ich fange mit einer Hand ein Schluchzen auf, als mir wieder Tränen die Wangen herunterlaufen und ich wünschte, sie könnten meine Schuld wegspülen.

      „Dass das nötig ist, zeigt nur, dass ihre Schlechtigkeit in ihnen verwurzelt ist. Anstatt, dass man sie hinrichtet, gibt die Gesellschaft horrende Summen aus, um ihnen ein gewaltfreies Leben zu ermöglichen. Wenn man bedenkt, was so ein Eingriff kostet …“ Die Tür schlägt zu und mein Inneres explodiert unter dem Einschlag eines Meteoriten, der meinen Kern erschüttert und Löcher in meine sündige Seele reißt.

      Sie haben uns angelogen. Die Wahrheit hat nie in meiner idealen Welt existiert. Wir sind nicht freiwillig den Weg der Wiedergeburt gegangen. Wir sind verurteilte Verbrecher. Meine Hände zittern, als ich auf sie herabblicke. Was habe ich getan? Wessen Blut klebt an mir? Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht laut zu schreien, um nicht laut zu lachen. Es gibt keine Gleichheit. Wir werden hier festgehalten, damit wir mit unserer Existenz nicht die Gesellschaft verpesten.

      Ich habe Angst vor mir selbst und doch steigt in mir ein unstillbarer Hunger hoch. Ich muss wissen, was ich getan habe. Und ich muss wissen, wie die Welt da draußen aussieht. Eine Welt ohne Glaswände. Ein Wort kommt mir in den Sinn, poppt aus dem Nichts auf: Freiheit. Ich will wissen, wie Freiheit schmeckt, wie sie sich anfühlt.

      Ich bin fassungslos über meinen Egoismus. Die Trauer um Dannie und die Schuld an ihrem geistigen Tod werden verdrängt von der Angst vor mir selbst, von dem Wunsch nach Freiheit. Bin ich wirklich eine lügende, egoistische Mörderin?

      Lange bleibe ich auf der geschlossenen Toilette sitzen. Weine lautlos um eine ideale Welt, in der ich gerne gelebt hätte. Irgendwie schaffe ich es, ungesehen zurück ins gläserne Rolltreppenlabyrinth. Da ich vorher hochgefahren bin, laufe ich gegen die Fahrtrichtung herunter, muss nur etwas schneller sein als die Treppe. Ich finde einen Ruhepol in all dem sinnlosen Rotieren, rolle mich zu einer Kugel zusammen und warte.

      Es dauert nicht lange, bis Sunshine auftaucht. Sie blickt auf mich herunter, ohne etwas zu sagen. Meine Augen fressen sich kurz an dem Weiß ihres Armbandes fest. Weiß sie, was die Nichtexistenz von Farbe bedeutet? Weiß ist keine Farbe. Sie ist die Abwesenheit von ihr. Und so sollen wir sein. Neugeboren, um neu beschriftet zu werden.

      Ich stehe auf und sage mit verheulten Augen: „Ich habe mich verlaufen.“ Sunshine starrt mich weiterhin nur an, wartet auf eine Erklärung, eine Wahrheit, die sie vermutlich nicht verkraften könnte. Oder weiß sie es? Könnte sie uns wirklich lieben, wenn sie es wüsste? Könnte sie so viel Freundlichkeit und Liebe ausstrahlen, wenn sie wüsste, dass ihre eigene Seele sündenbeladen ist? Ich gebe ihr so viel Wahrheit, wie ich kann.

      „Ich … bin Dannie begegnet. Sie hat mich nicht erkannt.“ Verständnis leuchtet mir entgegen. Ich senke den Kopf und Sunshine nimmt mich in den Arm. Trotz allem, was ich heute erfahren habe, gibt mir ihre Berührung Geborgenheit.

      „Wir können dir einen schmerzlosen Neuanfang schenken, wenn du es möchtest.“ Ich schüttle den Kopf und spreche die Wahrheit: „Es wäre schön, wenn Dannie ein wenig länger in mir weiterlebt.“ Meine Gedanken gelten dem fröhlichen, lächelnden Mädchen, das mich so herzlich willkommen geheißen hat. Dem Mädchen, das zu meiner ersten Freundin wurde. Und ich erkenne die Schwere der Strafe, die uns auferlegt wurde für Sünden, an die wir uns nicht erinnern.

      Sie haben uns unsere Erinnerungen genommen.

      Unser Ich getötet.

      Alles ausgelöscht, was uns ausgemacht hat.

      Wie kann ich solch eine harte Bestrafung akzeptieren, wenn ich das Verbrechen nicht