Der Krieger war zu Tode erschrocken; im ersten Moment dachte er, er werde angegriffen. Dann erkannte er den Scheich. Sofort begann er wortreich, sich zu entschuldigen.
Er kroch auf ihn zu, doch Rayan wollte gar nicht erst abwarten, bis er bei ihm war. Er war sich sicher, dass dieser Mann die ganze Nacht nicht mehr schlafen würde, selbst wenn er in zwei Stunden abgelöst werden würde.
„Du wirst dich morgen Abend, wenn wir das Lager aufgebaut haben, bei deinem Gruppenführer melden, um deine Strafe zu empfangen. Und außerdem wirst du, bis wir in Alessia sind, jede Nacht eine Wachschicht übernehmen“ schnauzte er ihn an. Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und führte wütend seine Runde fort.
2014 - Rub‘ al Khali - Einfach nur durchhalten
Am nächsten Morgen erwachte Carina erst, als Hatem sie schüttelte. Sonst wurde sie immer von selber munter. Aber eigentlich kein Wunder, denn sie hatte die halbe Nacht nicht schlafen können und sich stattdessen unruhig hin und her gewälzt. Erst lange nach Mitternacht war sie dann eingeschlafen.
Zum einen lag dies an den Ereignissen, die ihr nicht aus dem Kopf gingen und zum anderen schienen die Schmerzen in ihrem Bauch immer schlimmer zu werden. „Heute noch und morgen und dann sind wir in Alessia, dort kann ich zu einem Arzt gehen. So lange werde ich schon noch durchhalten", sprach sie sich selber Mut zu.
Und so quälte sie sich durch den Tag.
Am Vormittag, wo es noch einigermaßen kühl war, sprach sie mit Hatem über die Ereignisse des gestrigen Abends.
Der meinte lediglich trocken: „Na dann werden wir heute Abend wohl einer Bestrafung beiwohnen dürfen.“
Carina war schockiert: „Wieso?“
„Weil es eines der schlimmsten Vergehen im Stamm des Scheichs ist, während der Wache einzuschlafen. So wurden schon Kriege verloren!“
Sie entgegnete nichts und hing ihren Gedanken nach. Und fragte sich wieder einmal, ob sie diese Menschen je würde verstehen können.
Aber eigentlich war es ihr im Moment auch egal, sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
2014 - Rub’al Khali - Der Zusammenbruch
Als sie am Abend anhielten, um das Lager aufzubauen, fühlte sich Carina, als hätte sie Fieber. Sie glühte, aber zitterte zugleich vor Kälte.
Hatem merkte, dass etwas mit ihr nicht stimmte, doch es gelang ihr, ihm zu versichern, dass sie wohl zu wenig getrunken hätte. Er bot ihr an, alleine das Zelt aufzubauen, damit sie sich etwas ausruhen und etwas trinken konnte. Sie waren diesmal wieder mitten in der Wüste, keine Oase weit und breit.
Nach einer Weile sammelten sich die Leute und Hatem kam, um sie mitzunehmen. Die Bestrafung des Wächters stand an und es war üblich, dass dies im Beisein aller passierte.
Der Scheich selbst hielt mit seinem Pferd oben auf dem Rand der Senke Wache, von wo aus er alles überblicken konnte. Er stand dort bewegungslos wie ein Reiterstandbild.
Stolz so stolz. Carina konnte bloß den Kopf schütteln – Euer verdammter Stolz!
In der Mitte des Lagers hatte man mehrere Holzstangen eines Zeltes in den Boden gerammt und oben zusammengebunden, wie das Gerüst eines Indianerzeltes.
Der Mann wurde nicht etwa festgebunden, sondern trat mit bloßem Oberkörper so unter das Holz, dass er sich links und rechts an den Stangen festhalten konnte.
Und schon pfiff die Peitsche, einmal, zweimal, dreimal … Carina konnte nicht mehr zusehen. Der Mann gab keinen Laut von sich, nur ab und an zog er zischend die Luft ein.
Nach dem neunten Schlag ging er in die Knie.
Sein Gruppenführer, der die Peitsche hatte, wartete und gab ihm Zeit, sich zu sammeln und wieder zu erheben. Dann machte er weiter.
Nach dem zwölften Schlag war es endlich überstanden.
Carina spürte, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen und wischte sie schnell ab, bevor einer der Männer etwas bemerken konnte. Sie fühlte einen Hass in sich aufsteigen, wie sie ihn noch nie verspürt hatte. Auf dieses Monster, das all diese Dinge nicht nur zuließ, sondern auch noch befahl – den Scheich, der einst ihr Held gewesen war.
Sie wartete nicht mehr ab, wie die anderen Männer den glücklosen Wachposten beglückwünschten und umarmten. Er hatte seine Strafe wie ein Mann getragen und somit seinen Namen von der Schmach wieder reingewaschen. Die Aufregung hatte Carina nicht gut getan. Mittlerweile schlotterte sie am ganzen Körper. Der Schmerz hatte sich auf ihre rechte untere Seite verlagert. Sie konnte nicht mehr klar denken, nur noch daran, dass sie Wasser brauchte – sofort!
Als sie an ihrem Zelt angekommen war, riss sie den Wasserschlauch förmlich an sich und trank gierig, ohne darauf zu achten, dass die Hälfte über ihr Gesicht weglief.
Auf einmal stand einer der Gruppenführer vor ihr und riss ihr den Schlauch aus der Hand – was für eine Wasserverschwendung mitten in der Wüste, weit weg von jeder Oase! Und er schlug ihr hart ins Gesicht. Sie merkte nicht mehr, dass sie zu Boden stürzte und dabei ihr Turban vom Kopf gerissen wurde.
Sie lag bewegungslos am Boden, ihre goldenen Haare lagen frei über den Sand ausgebreitet.
Der Gruppenführer starrte sie an und verstand nicht mehr, was da gerade passiert war.
In diesem Moment rauschte Rayan wie ein Racheengel heran.
Ihm war von oben bereits vorher aufgefallen, dass sich Carina eigenartig benahm. Zunächst hatte er noch verächtlich geschnaubt, weil er geglaubt hatte, sie hätte zu schwache Nerven für die Bestrafung.
Dann hatte er gesehen, wie sehr sie zitterte und dass sie kaum noch stehen konnte.
Er hatte sofort sein Pferd in Bewegung gesetzt und war so rasch es ging losgeritten.
Doch er war nicht mehr schnell genug gewesen, den Mann von der Ohrfeige abzuhalten.
Wütend packte er den Mann und hieb ihm mit dem Handrücken seiner rechten Hand so stark von links nach rechts auf seine Wange, dass dieser seinerseits zu Boden ging.
Rayan beugte sich über Carina, hob ihren Kopf an und begann sie vorsichtig zu untersuchen. Dann hob er die Bewusstlose hoch und brachte sie in sein Zelt.
Vorsichtig legte er sie auf sein Lager. Sie murmelte etwas, und er sprach beruhigend auf sie ein. Vorsichtig drückte er ihren Bauch ab und kam schnell zu dem Schluss, dass die verhärtete Bauchdecke und das Fieber nur eines bedeuten konnte: Blinddarmentzündung, eventuell sogar ein Durchbruch.
Inzwischen hatte sich die Nachricht verbreitet, dass Hassan in Wirklichkeit eine blonde Frau war, eine Ungläubige noch dazu! Und die Männer waren sprachlos – wie konnte das sein?
Hanif kam ins Zelt, als Rayan gerade mit der Notrufzentrale telefonierte. Endlich war das verdammte Satellitentelefon einmal wirklich von Nutzen.
Man war sich schnell einig, dass das nächstgelegene Krankenhaus in Alessia war.
Es gab auch einen Helikopter, der allerdings nicht auf das Geratewohl in die Wüste fliegen konnte.
Rayan einigte sich, dass er die Frau auf dem schnellsten Wege in die nächste Oase bringen würde. Der Helikopter würde ihn morgen früh, etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang, dort abholen.
Hanif beauftragte er, drei der Ersatzpferde klar zu machen. Sie hatten tagsüber keinen Reiter tragen müssen und waren daher einigermaßen frisch.
Und so blieb es Hanif überlassen, zwei seiner Männer auszuwählen,