Am vierten Tag erreichten sie am frühen Nachmittag eine kleine Oase.
Jeder schien froh, wieder in der Nähe von Wasser zu sein und die Schläuche auffüllen zu können.
Die längere Pause bis zum nächsten Morgen würde Mensch und Tier guttun.
Und so war die Stimmung am Abend etwas ausgelassener als sonst. Nachdem drei der üblichen Männer Geschichten erzählt hatten, forderte die Runde ihren Herrn auf, nun eine seiner Geschichten zu erzählen. Hatem erklärte ihr, dass er gehört hatte, der Scheich sei ein sehr guter Geschichtenerzähler und er würde auch selten die gleichen Erlebnisse beschreiben. Er wäre wohl viel herumgekommen und dachte sich daher meist neue Ereignisse aus.
Carinas Frage, ob diese Geschichten wahr wären oder erfunden, beantwortete Hatem mit einem Lächeln: Das weiß nur Allah. Manche der Männer neigten sicher zum Übertreiben, aber das sei von den anderen auch durchaus gewollt und akzeptiert.
Nun fing der Scheich mit ruhiger Stimme an, aus seiner Vergangenheit zu berichten:
„Manche von Euch mögen meinen, ich sei mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Und ehrlich gesagt stimmt dies auch.“ Er lächelte kurz und die Männer lachten.
„Aber dann ging ich von zuhause fort. Es war Allahs Wunsch, dass ich nicht einfach in die Fußstapfen meines Vaters trete, sondern meinen eigenen Weg fand.“ Er hielt kunstvoll inne.
„Auf diesem Weg habe ich, wie ihr wisst, einiges gesehen und erlebt und vor allem viel gelernt. Am Anfang hatte ich kaum etwas zu essen. Meine Passagen bis in die Stadt musste ich mir mit Arbeiten verdienen, wie Kamele versorgen, sodass ich froh war, mit den Karawanen mitkommen zu dürfen, aber für Nahrung nur selten etwas übrig blieb. Eine Zeitlang habe ich als Wüstenführer für die Amerikaner gearbeitet, von denen ich mir eine große Anzahl Tricks abgeschaut habe.“ Er hielt wieder inne, was einem der Männer Gelegenheit gab, dazwischen zu fragen: „Was habt ihr von ihnen gelernt, Herr?“
Rayan dachte nach: „Waffenkunde, wie man Bomben baut, und eine Kampfkunst, die aus Japan kommt.“ Er griff hinter sich und holte sein Schwert hervor.
„Wie ihr wisst, ist dies kein Schwert, wie man es hier üblicherweise trägt.“ Er zog es ein Stück aus der Scheide heraus. Carina sah, dass es einen schwarzen Griff hatte, etwa eineinhalb Zentimeter breit und gerade war.
Sie war gespannt, welche Geschichte sie nun zu hören kriegen würde - das waren doch alles genau die Informationen, auf die sie gehofft hatte! Besser konnte es kaum werden …
Rayan bat um ein Stück Stoff, welches einer der Männer kurzerhand von seinem Ärmel abriss.
Dann ließ der Scheich den Stoff über die Klinge fallen. Sie schnitt es in zwei Hälften! Offenbar war die Klinge derart scharf, dass sie sogar das lose darauf fallende Gewebe teilte.
Durch die Männer ging ein Raunen. Rayan lächelte.
Gleich mehrere fragten, ob sie das Schwert einmal berühren dürften.
Hier wurde Rayan jedoch ernst. „Dieses Schwert hat eine Seele. Es darf nur von Männern berührt werden, die ihm vorher vorgestellt wurden und die es akzeptiert hat. Sonst wird es entweiht und verliert einen Teil seiner Kräfte. Außer mir fasst dieses Schwert hier nur eine weitere Person an.“ Er legte seine Hand auf Hanifs Schulter, der neben ihm saß: „Euer Reiterführer Hanif.“
Er steckte das Schwert wieder vollständig in die Scheide und reichte es Hanif, der es hinter sie wegpackte.
Die Männer jubelten Hanif zu, der sich stolz aufgerichtet hatte und dem Scheich dankbar zunickte.
„Wie geschickt er sie manipuliert", dachte Carina bei sich.
Die sonst eher schläfrige Stimmung war jetzt fast ehrfürchtig und voller Enthusiasmus.
„Zeig uns noch mehr, Herr", rief einer der Männer.
Rayan überlegte. Dann führte er zwei kurze Bewegungen so schnell hintereinander durch, dass keiner der Anwesenden sicher war, ob er sich überhaupt bewegt hatte.
Doch ein leises „plopp, plopp“ brachte die Männer dazu aufzusehen. Es dauerte einen Moment, bis sie erkannten, was das Geräusch verursacht hatte: In zwei der vier hölzernen Stäbe des Zeltes, in dem sie saßen, steckten zwei silberne Wurfmesser.
„Ich fass‘ es nicht, Messerwerfen kann der Kerl auch noch.“
Und mit welcher Präzession beide Würfe ausgeführt worden waren! Während die Männer ihren Herrn wie einen Helden feierten, rieselte es ihr kalt den Rücken hinunter. Mit dem war wirklich nicht zu scherzen. Wieder hatte sie das Bild des armen Mannes nahe Dubai vor Augen, der für seinen Mordversuch so grausam bezahlt hatte.
Sie beschloss, sich unauffällig zu verziehen und ins Bett zu gehen. Sollten sie ihren „Helden“ doch weiter feiern, sie würde die Zeit besser zum Schlafen nutzen. Irgendwie hatte sie sich heute den ganzen Tag auch nicht wirklich gut gefühlt. Sie hatte Bauchschmerzen gehabt, was sie auf das Wasser zurückgeführt hatte.
1991 - Rabea Akbar - Familienbande
Julie hatte den Streit der beiden wohl bemerkt. Sie sagte jedoch nichts.
Am Abend besprach Jack mit ihr den Vorfall und fragte sie nach ihrer Meinung. Dann kamen sie beide zum Entschluss, dass es nichts an ihrer ursprünglichen Entscheidung änderte.
So fuhren sie wie geplant am Sonntagvormittag zu dritt im Jeep des Generals hinaus in die Wüste zu einer kleinen Mini-Oase, die Yasin ihnen einmal gezeigt hatte.
Julie hatte ein paar Lebensmittel und Getränke eingepackt und sie ließen sich im Schatten der Palmen nieder.
Jack war etwas nervös, als er dem Jungen, den er ja nach wie vor nur unter dem Namen Yasin kannte, ihren Vorschlag unterbreitete.
„Julie und ich haben uns unterhalten. Wir wissen, wie sehr es dir gefallen würde, in die Spezialeinheit eintreten zu können. Das ist jedoch ausschließlich Amerikanern vorbehalten …“
Die Worte hingen einen Moment in der Luft, Rayan hatte keine Ahnung, auf was er hinaus wollte.
Es war Julie, die weitersprach: „ Clara war unsere einzige Tochter. Wir haben sonst keine Kinder. Aber du bist uns sehr ans Herz gewachsen. So sehr, dass wir dich adoptieren wollen.“
Rayan meinte, nicht recht gehört zu haben. Mit offenem Mund starrte er sie an.
Dann stotterte er verwirrt: „Ihr … was?!“
Julie lächelte über seinen in diesem Moment wirklich nicht intelligenten Gesichtsausdruck und wiederholte geduldig noch einmal: „Wir wollen dich adoptieren! Du bist zwar eigentlich etwas alt dafür, aber wir haben uns erkundigt und rechtlich gibt es keinerlei Altersvorschrift für eine Adoption, solange du noch nicht volljährig bist – und das bist du mit 17 Jahren ja noch nicht.“
Und Jack ergänzte: „Wir haben auch über meine Begegnung neulich mit … IHM … gesprochen.“ Rayan war klar, dass er seinen Vater meinte. „Und wir sind der Meinung, dass das für uns nichts ändert. ER hatte seine Chance und hat sie vertan - nun wollen wir unsere!“
Langsam drang die Bedeutung ihrer Worte zu Rayan durch und einen Moment lang versetzte ihn die Vorstellung in Panik. Dann fing er sich und begann die positiven Aspekte zu sehen.
Er wäre Amerikaner!
Da fiel ihm noch etwas ein und verlegen begann er: „Ihr könnt Euch denken, dass mein wahrer Name NICHT Yasin ist …“ – doch beide unterbrachen ihn sofort.
„Das ist Teil deiner Vergangenheit. Die hast du bei deinem Fortgehen von Zuhause begraben. Für uns bist du Yasin. Wir brauchen keinen anderen Namen.“
Dankbar nahm er sie beide in die Arme.
1991