Im Handschuhfach liegen Constanzes Zigaretten, eine zerknautschte Packung mit Gauloises. Er tut etwas, was er seit langem nicht mehr getan hat. Er raucht. Wie lange sind sie ein Paar, seit wann kennen sie sich? Da lebte sein Vater noch. Oskar bläst den Rauch des Tabaks gegen den Rückspiegel. Was ihn zuweilen fast ebenso heftig beschäftigen kann wie das Nacheinander der Geschehnisse, ist deren Gleichzeitigkeit. Eine flüchtig tanzende Schar zahlloser Lebensatome, ausgesetzt im scheinbar leeren Raum, im schwarzen, ungebundenen, im ungeheuren Nichts. Er hustet leise. Welche Gebete helfen, den Glauben zu vernetzen, den Zweifel zu ersetzen?
Oskar tritt auf die Bremse, um einer weiß-schwarz gestreiften Katze auszuweichen, die von schräg links unerwartet auf die Straße läuft. Aber, genau besehen, so überlegt er, hat mich das nicht seit jeher interessiert? Als er jung war, hatte er, wie er sich entsinnen kann, nach einem Verfahren gesucht, Summe, Volumen und Qualität der Ereignisse eines gemeinsamen Zeitkorridors an einem xbeliebigen Schnittpunkt exakt bestimmen zu können. Eine absolut kindische Idee.
Hat er je mit seiner Frau über das gesprochen, was ihn gerade bewegt? Hat sie aber nicht ganz andere Markierungen? Eigentlich wollte Constanze Modezeichnerin werden. Ihre Ehe kam dazwischen. Sie arbeitete, während Oskar sich seine ersten beruflichen Sporen verdiente, als Bürokraft und brachte das nötige Geld ins Haus. Später war sie erst Mutter und dann beschäftigungslos. Heute hilft sie, was sie nicht müsste, in einem Modeladen aus, der einer Freundin gehört; stundenweise.
Oskar verlangsamt das Tempo und parkt den Wagen neben der einzigen Pharmazie des Ortes. Er steigt aus. Die Hitze trifft ihn mit der Wucht einer Flutwelle. Sie scheint in direkter Linie aus dem dunklen Faltenwurf der Vorgeschichte zu kommen.
Er bleibt stehen, mustert die Ortsschilder, wiegt die Autoschlüssel in der offenen Hand. Ist das, was man Leben nennt, ein Netzwerk mit beigelegtem Faltplan? Lässt es sich auf irgendeine Weise nach irgendeiner Seite hin ausmessen? Eine junge Frau verlässt die Pharmazie. Sie trägt Sandalen. Sie hat sehr schöne Beine. Sie schenkt ihm ein Lächeln. Es streichelt ihn sanft. Oskar fühlt sich geschmeichelt und kündigt der Grübelei.
Ohnehin folgt, denkt er den letzten Gedanken rasch noch in den Pausenmodus, das Vorhaben einer Vektorgrafik, die sich unendlich aufblähen ließe, ohne dass ihr Gegenstand seine Gestalt, die man stets ja nur erahnen, nie aber wirklich fassen kann, verlöre.
*
“Ich gehorche gern.”
Sie stand unbekleidet und hellhäutig in der Tür. Sie sagte das, was sie sagte, leise, gleichwohl eindringlich, mit einem gekrausten Lächeln auf ihren einladend geöffneten Lippen. Dann drehte sie sich, so dass er sie von allen Seiten gut betrachten konnte. Ihr Körper war nicht rundum geglückt, aber von einer unwiderstehlich wollüstigen Ausstrahlung. Er betrachtete ihren Hintern, auf dem man einen Nachttopf hätte abstellen können. Der ganze kurvenreiche, verführerische Anblick warf bei ihm verzögerungsfrei die Standheizung an. Nur gedanklich blieb er unentschlossen. War das eine Falle? Sie war eine Freundin von Saloua. Wusste die davon, dass Janine hier war? Hatte Mohun das Mädchen auf ihn angesetzt?
“Wer hat dich geschickt?”
“Niemand hat mich geschickt.”
Er spürte die duftende Nachbarschaft ihres Leibes, Janine wogte auf ihn zu, umgarnte, umarmte ihn. Er ließ es geschehen. Sie fasste an seine Hose. Es war wie ein plötzlicher Stromschlag. Er vergaß für Sekunden, weiterzudenken. Er leckte mit seiner Zunge an ihren Brüsten, biss in das weiche Fleisch. Sie hatte Handschellen dabei. Sie hatte sie auf dem Tisch abgelegt. Glaubte sie wohl, er wolle sie gebrauchen? Was war das hier für ein Zweiakter?
Seine Hände glitten zwischen ihre Schenkel, seine Finger in ihre saftige Muschi, zwei rauschende Oktaven tief. Er kannte das Mädchen kaum. Er hatte sie zweimal gesehen. Sie kam daher, wo der Senf herkam, aus Dijon. Sie war älter als Saloua. Das Licht der Deckenbeleuchtung traf seine Augen, als sie zu Boden sanken, machte ihn vorübergehend taumelnd blind, wie auch die allseits wie Hefe aufquellende Lust. Ich werde ficken, dachte er, egal, wie das Stück, an dem ich hier beteiligt bin, betitelt ist, und das, bis der Vorhang fällt.
Die Glut der Zigarette. Die Dunkelheit, eine Qualle. Die Episode lag Tage zurück. Er dachte wieder und wieder daran. Hatte er sie nur fantasiert? In einer Stunde des Rausches? Es vermischte sich oft, was wahr war und was nur gefiebert. Bevor er ins Alkoma fiel.
Oder wenn, in peristaltischen Zwischenzeiten, fühlbar alles um ihn herum versank, die Ekstase, der Wind, die Namen, die Straßen, die Stunden, das Licht... Er saß jetzt still da und wartete. Auf ein Zeichen, darauf dass die Tage kürzer wurden, das Leben wurde es ohnehin. Es kam kein Zeichen. Was konnte er tun? Es war alles wie in einem brandigen Traum. Der Traum diktierte die Fakten. Der Traum war ein Albtraum. Und sollte er je daraus erwachen, er würde ein Vaterunser beten, gegebenenfalls auch zwei.
Die Lage war unübersichtlich geworden, nicht allein für ihn. Für andere ebenso. Es gab polizeiliche Ermittlungen wegen der letzten Überfälle. Er dachte an Saloua? Wo mochte sie sich jetzt gerade aufhalten? Er dachte an Mohun. Auch dessen Spuren hatten sich verloren. Irgendwo auf dem Schwarzen Kontinent. Oscar fühlte sich allein gelassen. War er das wirklich? Seine Zukunft, schien ihm, lag hinter einer Kurve. Die Tage reihten sich aneinander, schweigend. Vexierbilder, Frühgeburten allesamt. Wäre er doch, wie einst, wieder der schattenhafte Tastenmann, der vor seinem Instrument hockte und alles um sich her vergaß.
“Ich bin ein homme d’affaires, nichts weiter.”
So stellte Mohun sich gern dar, wenn es um seine lichtscheuen Geschäfte ging. Und machte dabei sein harmlosestes Gesicht. Oscar kannte den Ausdruck gut. Er kannte auch jenen anderen Ausdruck, der lediglich über das Augenlicht die Gravur einer andersartigen, härteren Schattierung in Freyer-Mohuns Mienenspiel schnitzte. Dann konnte seine Fußnote zur menschlichen und damit zur eigenen Natur lauten:
“Ein wahrer Mann hat Feinde.”
Ihm kam eine Idee. War Mohun etwa nach Marokko abgetaucht? Er hatte früher eine Zeitlang im schwulen Marrakesch gelebt, als Händler, wie er einmal sagte. Und er hatte alte Freunde dort. Und womit hatte er gehandelt? Mit Gold und Edelsteinen? Mit Drogen? Mit Kamelmilch? Mit Vaseline? Es gab darüber, wie über manches andere, keine verlässlichen Informationen. Oscar verwarf die Idee wieder. Eine andere hatte er nicht.
Er stand auf. Er zog, was er manchmal tat, mit den Fingern der einen Hand an den Fingern der anderen Hand, sie einzeln am mittleren Knöchel fassend, so als wolle er sie verlängern. Er tat es, wenn er in einer schwermütigen Stimmung war, und er tat es, bis es schmerzte. Dieses Weh war wie Salz in einem toten Meer, das seinen Geist auf dem Rücken einer starren Zeitachse schaukelte.
Ein Duft nach Sandelholz schwebte im Raum. Er wusste nicht, woher er kam. Kam er vom Fenster her oder stieg er auf aus dem schwarzen Loch seines Unbewussten? Er sichtete sein Barvermögen. Es war nicht viel. Das ist, seufzte er matt, also der traurige Rest meiner Kriegskasse.
Er war unsicher auf den Beinen, gerade so, als wäre er erst kürzlich einer Ohnmacht entstiegen. Ich werde Paris verlassen, dachte er, ich werde Frankreich verlassen, und zwar einfach so. War es nicht im Grunde egal, wohin er ging? Die Überlegung war kosmetischer Natur. Überall war Nirgends. In der Ferne lebte seine Familie. Sie trug noch seinen Namen. Doch sie wartete nicht auf ihn. Er hatte einen Pass. Der nicht besser war als eine Hundemarke.
“Ich habe eine Schwäche für den schwarzen Kontinent. Er ist mein zweites Zuhause.”
Worte Mohuns, kürzlich von ihm geäußert. Sie hallten in Oscars Ohren nach. Worte, die, wie es ihm jetzt