Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
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Nein, kein Selbstmitleid bitte, flüsterte er sich selber zu, nicht hier vor dem Mädchen. Nicht wieder diese Tour, würde Conny gesagt haben. Er steckte sich umständlich eine Zigarette ins Gesicht. Saloua sah ihn sinnend an, hakte jedoch nicht weiter nach.

      “Weißt du, Saloua, an manchen Tagen sehe ich nur Schatten. Ich nenne sie Schattentage.”

      “Sei bitte nicht so düster, Oscar. Nebenbei…warum singst du eigentlich nicht?“

      “Ich? Singen?

      “Du hast eine schöne, eine warme und dunkle Stimme.

      “Das heißt nicht viel. Nicht jede schöne, warme, dunkle Stimme ist eine Singstimme. Außerdem, es wäre, ehm, wohl auch nicht so ganz die geeignete Musik für mich.

      “Du meinst die Musik im Rapzodie?“

      “Ja.

      “Ich will gleich auf den Marché. Was ist, begleitest du mich?“

      “Ich begleite dich.

      Sie zahlten, erhoben sich und machten sich auf den Weg. Zum Marché De Jean.

      *

      Der Rausch war stärker an diesem Morgen, die Nebel dichter. Er trug das Pulverfass, das vorher sein Schädel gewesen war, ins Bad. Er hatte sich wieder verspätet, gestern Abend. Triolen der Unregelmäßigkeit. Das Dutzend war mittlerweile voll. Ferenczy tobte und drohte ihm, und das war nicht neu, mit sofortigem Rausschmiss.

      “So kann und darf es nicht weitergehen, Oscar, so nicht!

      Das Wasser, das in Synkopen aus dem Hahn glitzerte und über sein Gesicht rann, ließ keinen Raum für intimere Betrachtungen. Es war eiskalt. Er hätte gern ein wärmendes Bad genommen. Doch hier existierte kein Bad, nicht einmal eine Dusche. Er trank in stürzenden Schlucken. An dieser Stelle wäre es wahrscheinlich angebrachter gewesen, mit Salzwasser zu gurgeln, um den Geschmack der letzten Nacht loszuwerden.

      Er würde Abbitte leisten müssen. Er hatte es bisher noch jedes Mal getan. Nur dieses Mal war er entschlossen, es nicht bei einem bloßen Je suis désolé bewenden zu lassen. Er wollte mehr tun. Er wollte Besserung geloben. Er war es sich schuldig. Und den anderen auch. Schluss jetzt mit dieser jämmerlichen Figur, die auf den Namen Oscar von der Höh hörte. Schluss mit der Trinkseligkeit, mit all den Peinlichkeiten, den Ausfällen, den Niederlagen vor dem eigenen Ich.

      “Du gehst wie ein Mann, du redest wie ein Mann. Du magst nach außen sogar wie ein Mann der Tat wirken, Oscar, aber es ist alles Fassade, dahinter verbergen sich… Wüsten der Leere.

      O-Ton Conny... (Sie konnte reden wie ein Feldwebel). Oscar streckte mühsam den Rücken durch. In aufrechter Haltung verließ er dann das Haus. Einem Menschen unter Milliarden wollte er es wenigstens zeigen, dass er das nicht war: ein Ort der Leere. Dieser Mensch war Saloua.

      Da es draußen ungemütlich war, zog er seinen bimssteinfarbenen Cashmere Pullover an unter dem Jackett. Einen Mantel besaß er nicht. Er hatte sich kürzlich einen dritten Anzug kaufen wollen, hatte es jedoch verschoben. Ich verschiebe viel, murmelte er, ich bin zwar kein Verschiebebahnhof, aber ich war zu lange ein totes Gleis. Das muss ein Ende haben.

      Im Bus, auf dem Weg vom 19. ins 18. Arrondissement, kam ihm ein Gedanke, der im Grunde keiner war, eher eine Art Bildunterschrift. Und das Bild dazu stammte aus der Dunkelkammer seiner Erinnerung…

      “Es war Zufall, das mit der Radiosendung. Es war Zufall, das mit dem Orchester. Überhaupt ist mir lange Zeit vieles so in den Schoß gefallen. Was geschah, geschah in der Regel ohne mein Zutun. Eines Tages, ehm, hörte es damit auf - schlagartig. Alles, was von jetzt an noch zufiel, waren Türen.

      Eine Beichte. Vor der Sonne Afrikas. So nannte er Saloua manchmal, wenn er von ihr zu sich selber sprach. Es war nicht geplant, und er war betrunken gewesen. Nicht völlig betrunken. Sonst hätte er sich dessen nicht in einiger Klarheit entsinnen können.

      Er hatte gar nicht über Vergangenes reden wollen. Und sie hatte nicht danach gefragt. Es war eben so geschehen. Sie war in den Raum getreten, unerwartet, und nachdem alle anderen bereits weg waren. Er saß an dem altersschwachen Klavier, das sonst selten zum Einsatz kam und spielte Bach, so für sich allein, was er mitunter tat, zur Ausräucherung der trüben Stimmungslage, die in der vorausgehenden ‘Tanzstunde’ an den Säumen seines Gemüts heraufzukriechen pflegte.

      “Das klingt schön.

      “Saloua! Du, hier!

      Er sah auf, überrascht, erfreut. Sie war mitten im Saal stehen geblieben, sie stand dort, die Hände um einen imaginären Bastkorb gelegt, in dem ein Strauß imaginärer Blumen ruhte, das Ganze festlich umspielt von der sonst ebenso neblig wie armselig wirkenden Deckenbeleuchtung. Selbst das müde Linoleum des Tanzbodens schien in diesem Moment einen balzenden Duft auszusenden.

      “Ich hörte das Piano, da dachte ich mir, dass du es bist...Was ist es, was du da spielst?“

      “Eine Komposition von Johann Sebastian Bach.

      “Wie heißt sie?

      “Invention Nr. 4... Stammt aus einem Zyklus kleiner Stücke für Klavier und ist eigentlich für vier Hände geschrieben. Ich habe es, ehm, ein wenig für meine Zwecke abgewandelt.

      “Ist das die Art von Musik, die du gerne hast?“

      “Ja.

      “Warum?

      “Sie ist, ehm, so schlackenlos so rein,…. Gefällt sie dir?

      “Ja, ich mag sie. Allerdings, lieber mag ich Musik, zu der man tanzen kann.

      “Trinken wir ein Glas Wein zusammen, Saloua? Du bleibst doch noch ein bisschen?

      Sie blieb. Und nach einer Weile begann er spontan aus seinem Leben zu erzählen. Sie hörte schweigend zu. Er sprach davon, dass er in entlegenen Zeiten eine Weile in einem Tanzorchester gespielt habe, in mehreren Kontinenten auf Tournee gewesen sei, zwischen Hamburg und Haiti, von Europa über Japan, wo man die größten Erfolge feierte, bis tief hinab nach Feuerland.

      Er erzählte ihr ferner, dass er als Swingpianist in London gelebt und dort, zu nächtlicher Stunde, eine eigene smarte, kleine Radiosendung komoderiert habe, eine Sendung, in der er, neben anderem, Musik seiner Wahl hatte vorstellen können. Er erzählte zusammenhanglos. Er hüpfte von Thema zu Thema. Zwischendurch leerte er anderthalb Flaschen Wein und das solo, denn Saloua trank nicht mit.

      “Am Klavier sollte die linke Hand stets wissen, was die rechte tut und umgekehrt. Fern des Klaviers ist das, ehm, bei mir nicht immer der Fall gewesen.

      “Und heute ist das anders?“

      “Keineswegs... wie du ja weißt.

      Sie lächelten im Chor. Oscars Lächeln kam dabei ein bisschen vom Wege ab. Es lag nicht allein am Alkohol.

      Kapitel 3

      Der Strand dehnt sich weit, verlassen, leer.

      Er mag das. Es ist noch früh, kurz nach Sonnenaufgang, und es ist außer ihm niemand hier. Oskar saugt die Seeluft ein, die nach Tang, Salz und blauer Ferne riecht, lauscht den multiplexen Schreien der Möven. Fülle