Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
Скачать книгу
dass er sich auf diese Art interessanter machen möchte, als er ist.

      Manchmal fühle er sich schrecklich einsam, hat ihm der Freund einmal überraschend anvertraut. Oskar war verwundert, das zu hören, konnte damit eigentlich nicht viel anfangen. Wohl, weil es ihm nicht so geht. Er fühlte sich bislang nie einsam. Es fehlte die Zeit dazu. Er schaut auf die See, die nun weiter zurückgewichen ist. Es wird bald Hoch-Ebbe sein. Leichte Nebelschleier pilgern über das Watt. Es ist still ringsum. Und einsam. Doch das hat hier seine eigene Bedeutung. Warum, fragt sich Oskar, heißt es eigentlich Chemiker und nicht Chemologe?

      *

      Die Kanonenschläge der Großstadt. Er kam vom Ohrenarzt, ging die Rue Madeleine entlang. Er war auf dem Weg zum Gouffre Bleu. Er hatte sie durchpusten lassen, seine Ohren. Jetzt hörte er wieder besser, fast schon zu gut. Die Lautheit der Straße gurgelte in seinen Gehörgängen. Andrerseits, nicht richtig hören zu können, ist recht fatal für jemanden, der Musik macht.

      Bevor er beim Arzt war, traf er Saloua. Sie wirkte aufgeregt wie selten. Ihr sonst genuin gelassenes Gemüt befand sich in Unordnung, in blitzendem Aufruhr. Sie redeten nur kurz miteinander, zu kurz, um zu erfahren, was es mit ihrem Zustand auf sich hatte. Oscar war sichtlich beunruhigt. Er wollte herausfinden, was los war.

      “Ich kann jetzt nicht reden, Oscar. Ich muss rasch weg. Es ist dringend!

      “Sehen wir uns nachher bei deinem Vater?

      “Je sais pas.

      Er wusste es auch nicht. Schon war sie fort. Oscar betrachtete ratlos die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Die Leere, die sie hinterließ, hatte etwas Elementares.

      Es war nicht unbedingt der passende Zeitpunkt, um sich über Salouas Persönlichkeit Gedanken zu machen. Er tat es aber. Er tat es, während er im Wartezimmer des Ohrenarztes saß und später, als er wie angekettet in der Totenstille des Gouffre Bleu verharrte. Er tat oft etwas, was nicht ganz den Umständen entsprach.

      Saloua würde in dreizehn Tagen Geburtstag haben. Oscar hatte bereits ein Geschenk. Er hatte ein Lied für sie komponiert. Er dachte flüchtig daran, während er ihren Wesensmerkmalen nachspürte. Wenn sie ein Kaugummi kaute, wirkte sie mädchenhaft, sonst eher nicht. Sonst konnte sie sehr erwachsen wirken, fast abgeklärt. Sie konnte ruhig sein, von Windstille umgeben, sanft und weich wie Kautschuk, oder aber die Kraft einer Windhose entfachen. Dann explodierte ihr Temperament, lud sich mit Blitzen auf. Zugleich lag ihrem Charakter eine zeitferne Trägheit zugrunde, und sie war unzuverlässig. Gern hielt sie sich nicht an Abmachungen oder Verabredungen. Es war nicht böser Wille, sie vergaß sie einfach.

      Gleichung mit zwei Unbekannten.

      Ein finsteres Aroma verpestete die Luft. Das Sterben roch so. Die erste Leiche sah er, als er den Barraum betrat. Sie hing über dem Holztresen, kopfüber, beide Arme baumelten herab, erschöpften Schlingpflanzen gleich. Man sah verspritztes Blut, selbst auf dem Weiß und Schwarz der Tasten des Pianos. Es war bereits angetrocknet. Einschusslöcher im Rücken des Leichnams verrieten etwas über die Todesart.

      Oscar stand da wie ein verlorenes Ei. Können Eier stehen? Ja, wenn man sie eindrückt. So fühlte er sich dem Geisterbild gegenüber, das ihm an diesem Ort vor Augen kam. Über Minuten tat er so gut wie gar nichts. Oder waren es Äonen? Irgendwann löste er sich aus seiner kolumbianischen Erstarrung und trat in die einsetzende Abenddämmerung hinaus. Der Himmel war klar. Der Mond zeigte sich schon, honigfarben. Es gab ja auch Sternenleichen. Wer kümmerte sich eigentlich um die?

      Kein Schreck kam über ihn. Das brauchte er auch nicht. Denn er hatte ihn in diesen Tagen stets dabei. Nur fort von hier, dachte er. Er rannte davon. Er lief, bis ihm die Luft wegblieb, was bald der Fall war. Dennoch hetzte er weiter, keuchend, schwitzend, von Furien, von Dämonen gejagt. Das war die Unterwelt, und er war hinein geraten. Himmel! Rette mich, erlöse mich von dem Übel! Ich will dieses Leben nicht. Bin ich nicht dereinst unter anderen Vorzeichen angetreten? Wollte meine Mutter nicht, dass aus mir ein gefeierter Konzertpianist wird?

      *

      Oscar hatte, ohne sich dessen recht gewahr zu werden, Montmartre erklommen, stand etwas unterhalb von Sacre Coeur. Seine Mutter… Ihr Bild drängte sich unerwartet zwischen die anderen, die blutbespritzten Bilder. Ein kühler Glanz war so oft um ihre hoheitsvolle Gestalt gewesen, ein kühler Glanz, überzogen von einer Glasur der Unberührbarkeit. Es gab mehr als eine Frau in seinem Leben, auf die das zutraf.

      Oscar schaute ins Weite. Paris lag prächtig, unirdisch schön unter ihm. Zu seiner Linken stand eine alte Frau mit einem perlweißen Spitz, zur Rechten schmiegte sich ein blutjunges Liebespaar in die steinernen Kissen der historischen Anhöhe. Für ihn ähnelte diese im Augenblick allerdings mehr einem frisch aufgeworfenen Grabhügel. Obszön tropfte Zeitpaste durch das Stundenglas.

      Er hatte zwei Tote gesehen. Der zweite lag in einer Ecke neben der Tür, auf dem Rücken, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Er kannte keinen der Männer. Sie trugen graue Anzüge und schwarze Lederschuhe. Ihre Hüte waren ihnen vom Schädel gerollt, was dem Ausdruck ihrer erloschenen Gesichter eine eigentümliche Nacktheit verlieh. Es war ihm schon klar, zu wem sie gehörten. Zu dem Bretonen, den man (nicht allein seiner roten Haare wegen) Poil de Carotte nannte. Mohun sagte Rotfuchs oder, abfälliger, Mohrrübe, wenn er mit Oscar deutsch sprach. Die Männer waren vermutlich gekommen, um den Laden hier aufzumischen und hatten damit irgendwie Pech gehabt.

      Plötzlich glaubte er den Grund für die Aufregung, in der er Saloua angetroffen hatte, zu kennen. Sie musste von der Sache gewusst haben. Er war in Sorge um sie. Was konnte er tun? Was, um ihr zu helfen, was, um der eigenen Verwirrung Herr zu werden, die älter war, die langsam Fett ansetzte, wucherte, sich ausbreitete, zu einem ständigen Begleiter zu werden drohte, zu seinem Schatten.

      Früher, als Knabe noch, war er überzeugt gewesen, dass wer auf der unteren Hälfte der Erde stehe, früher oder später unweigerlich von ihr herunter stürzen müsse. Die Vorstellung beruhte auf einer menschlich verständlichen Sinnestäuschung. Damals glaubte er angeben zu können, wo oben war und wo unten. Heute blieb, aus verschiedenen Gründen, eine Täuschung wie diese aus. Dafür fühlte er sich jetzt selber wie einer, der auf der Erdunterseite kauerte und Angst hatte herab zu fallen…

      “Die Menschheit zerfällt für mich in drei Klassen, da sind die, die befehlen, die, die gehorchen und die, die zu feige oder zu träge für beides sind, die Drückeberger. Das sind die Schlimmsten.

      “Bobov zählt dann vermutlich zur letzten Gruppe?

      “So ist es.

      “Glaubst du, er ahnte etwas?

      “Sicher nicht.

      „Sagtest du nicht, wer unter deinem Schutz steht, dem passiere nichts?

      „Was soll das, Oscar. Willst du mich schulmeistern?

      „Nein. Aber dieses Mal, ehm, hat es offenbar nicht funktioniert.

      „Ein Irrtum, wie? Gut, mein Lieber, meinetwegen. Und? Fällst du jetzt vom Glauben ab?

      „Jeder darf mal scheitern…

      Oscar sah sich mit Mohun in der Nähe einer Litfaßsäule stehen. Es war die nämliche, an dem ihm einmal dieses Plakat mit der Swing-Combo aufgefallen war. Sie verweilten dort während eines lauen Sommerabends. Zeit war ins Land gegangen, seit er in die Stadt gekommen war, ungenaue Zeit. Und es geschah, nicht lange, nachdem Mohun das Gouffre Bleu übernommen hatte, dass sie sich hier trafen. Es war, wie Mohun zugab, vielleicht ein Fehler gewesen, die Bar in eigener Regie zu führen. Er hatte bislang nie ein eigenes Lokal besessen, hatte vielmehr andere vor die Kamera gelassen, um selber im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Nun waren die Fäden unvermittelt sichtbar.

      Mohun