Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
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du das Empfinden, unter den letzten Jahren gebe es verlorene Jahre?

      “Manchmal schon.”

      Obwohl ihre Antwort ihn nicht wirklich überrascht, ist er dennoch irritiert. Und ihm ist plötzlich leicht elend zumute. Er will es nicht zeigen, aber er spürt, seine Stimmbänder torkeln, es scheint ihm fast, als könnten sie jeden Augenblick reißen.

      “Stänzchen, wir sollten...

      “Was...? Was sollten wir?

      “Wir sollten unsere Zeit nicht mit kleinlichem Streit vergeuden.

      Er hat eigentlich auf sie zugehen und sie umarmen wollen, doch er wendet sich der Veranda zu, tritt dort hinaus, kaut hastig die frische Luft wider. Im Garten nebenan steht ein Eukalyptusbaum. Seine Rinde hat Hautausschlag. Liegt ein böser, fauler Zauber darüber Dahinter und oberhalb der weiß gekalkten Mauer, die die Terrasse ihrer Nachbarn umschließt, klettert an einem Kreuz aus Bambusstäben Bougainvillea himmelwärts. Das leuchtende Violett, findet Oskar, hat heute etwas Käufliches.

      *

      Er kam vom Gouffre Bleu. Sein Schritt war trascinando.

      Er ging durch die klebrige Nacht, den Blick stockgerade auf den Erdboden gerichtet, denn ein Blick zum Himmel, das wusste ja jeder, war ein Blick in die Vergangenheit. Mit der wollte er gegenwärtig wenig zu tun haben. Dabei verpasste er gerade so einiges. Prächtige Lichtgirlanden sprühten am Firmament. Seine Sinne, über Stunden bereits auf eine dunkle Tonart gestimmt, nahmen davon jedoch kaum Notiz. Er murmelte, während er voranschritt, vor sich hin, und zwar in einer Art grimmigen Sing-Sang, der sich auf einen Vers und dessen Refrain verteilte:

      “Wir sind allesamt keine unbeschriebenen Blätter, sondern Palimpseste.

      Ersteres hatte nicht er gesagt, sondern der alte Samrei, dereinst sein Klavierlehrer, zu einer Zeit, als er zwölf Jahre alt war. Er hatte sich den Satz gemerkt, zunächst nur wegen des letzten Wortes, das eine seltsam holprige Musik verströmte und dessen Bedeutung ihm damals unverständlich blieb.

      Oscar rollte seine Zunge ein. Soweit war es also gekommen. Er hatte mit Geschehnissen zu tun, die ihn nichts angingen und die dennoch Teil seiner Tage und Nächte geworden waren, und sie fingen an, ihre Schatten auf seine Fährte zu werfen. Das Personal des Stückes stand fest, der Ausgang nicht. In seinem Kopf pochte eine Handtrommel mit Schellen. Im Staccato sprühte afrikanisches Lachen funkelnd wie frisches Quellwasser über seinem Gedächtnisbrunnen.

      “Was du sagst, klingt nach viel Bewunderung.

      “Er ist stark, und ich mag Stärke.”

      “Hm.”

      “Und er ist jemand, der sich nicht verstellt.

      “Hm. Hm.”

      “Er ist der Mann, dem ich Kinder schenken will.

      “Ist er dir nicht zu alt?

      “Ah non.

      Sie biss in die Tafel Schokolade, die von der Farbe kaum dunkler war als sie selbst. Sie brach in der Folge einen Riegel ab und reichte ihm, mit einem chremigen Leuchten in den Augen, das längliche Stück.

      “Iß... Es macht froh.”

      Er sagte nichts, schüttelte ablehnend den Kopf. Sie entsann sich offenbar nicht mehr der Worte, die sie einmal zum Thema ‘Alter’ ihm gegenüber geäußert hatte. Er aber erinnerte sich, leider, und diese Erinnerung war inoperabel.

      Was fesselte sie nur an diesem Menschen? Die Antwort schien einfach: sie liebte ihn. Sie liebte den Mann, der ihren Vater in der Hand und, zumindest mittelbar, mit dem Überfall auf das Rapzodie zu tun hatte. Davon wusste sie wohl nichts. Oskar hätte sie darüber aufklären können. Das wollte er nicht. Das konnte er gar nicht. So wie er zunächst nicht wahr haben mochte und konnte, dass die zwei ein Paar waren. Doch das war ein Faktum, womöglich auch Fatum. Die beiden gehörten zusammen, dennoch bestahl sie Mohun heimlich. Sie half so der kleinen afrikanischen Kolonie, jener Gruppe von Personen, die, ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, in Ruinen im Osten der Stadt hauste. Das war nun sicher nicht die ganze Geschichte, ja, nicht einmal die halbe.

      Er blieb stehen. Er war im Kreise marschiert. Er stand wieder vor dem Nachtclub. Er wischte sich die Stirn. Sterne klimperten geschäftig im Himmelsgesteck. Er schwitzte. Er empfand Angst. Sie fing ihn mit ihrem Lasso ein. War das hier seine neue Schicksalsadresse? Er sah nach der Uhrzeit. Es war fünf Uhr in der Früh. Was war vor Stunden, was war am Vortage geschehen? Diese üble Bande von Ganoven, die ihn umstellt, die ihn bedroht hatte... nein, das war zu einem anderen Zeitpunkt passiert. Und das verstimmte Klavier? Das war passé. Mohun hatte es stimmen lassen, gestern. Und er, Oscar - er sah die Kulisse eisgrau vor sich aufsteigen - war dabei gewesen, hatte getan, was ihm selber vielleicht gut täte, nämlich Aufsicht geführt. Er hustete. Er stoppte den Film, startete den Rücklauf. Die Stadt schnarchte breit vor sich hin…

      Er vergrub die Hände in den Taschen seiner Hose. Sein Gang war unstet, mollusk. An seinem Hosengürtel baumelte, als wäre es ein Messergurt, ein lederner Köcher, in welchem, eingerollt, Notenblätter steckten. Oscar ging ohne Jackett. Die Stadt hatte Flügel. Es war warm. Es war heiter. Er hatte die Ärmel seines weißen, gebügelten Hemdes aufgekrempelt. Die Haut seiner Arme war fast ebenso weiß und babyglatt. Er hatte ein Musikstück transkribiert. Die Schrift, in der er Noten setzte, war sauber und gestochen scharf. Für diese Akkuratesse war er früher schon unter seinen Kollegen berühmt gewesen.

      Er blieb vor einer Litfasssäule stehen. Dort warb man im Schein der Straßenbeleuchtung für eine in der Stadt gastierende amerikanische Swing-Combo. Die Reklame war den Plakaten der Dreißiger Jahre nachempfunden. Als junger Mann hatte auch er in einer solchen Formation gespielt…

      Es waren die Vorkriegsjahre. Sie waren zu fünft. Man lebte und arbeitete in Hamburg und traf sich abends und nachts, nach den Auftritten, in einer Künstlerkneipe in der City, nahe der Steinstraße. Der Name des Lokals war ihm entfallen. Mitunter waren auch bekanntere Künstler unter den Gästen, sie kamen aus dem Trichter oder aus dem Café Heinze, Teddy Stauffer soll nach einem seiner Hamburger Konzerte unter den Besuchern gewesen sein, die Künneke war, nach dem Krieg, mehrmals dort und andere, deren Namen später, im Laufe der Jahre wieder verblassten.

      Es waren schwierige Zeiten. Die Musik stand unter Verbot. Es gab Razzien. Dennoch, die Kneipe überlebte den Krieg. Ihre Blütezeit hatte sie eigentlich erst in den Jahren danach, monetär gesehen. Oscar entsann sich des zweiten Nachkriegswinters. Schieber, Schwarzmarkthändler, Hafengrößen, gelegentlich ein Lude, viele die Taschen prall gefüllt mit Banknoten, Zigaretten, Zigarren, goldenen Uhren; kleine, große, beleibte Männer in langen Mänteln, mit breitkrempigen Hüten, junge, mit Schminke verminte Frauen, in Zobelpelz und Fuchsstola, gaben sich hier, jenseits der zeitkonformen Kulisse aus Kriegsruinen, Steckrüben, schlechten Pralinen und Buttermarken ein munteres, ein gieriges, ein ausschweifendes Stelldichein. Künstler fanden sich zunehmend seltener unter den Gästen.

      Eines Abends, an einem frostigen Montag im Februar, er war zu dieser Zeit ohne feste Arbeit und mehr aus wehmütiger Erinnerung noch einmal in die Kneipe gekommen, lernte er Cornelia Stramm kennen. Knapp ein Jahr dauerte es, und sie waren verheiratet. Sie war dieses erste Mal in Begleitung einer Freundin und ihres älteren Bruders. Ihr Bruder hieß Martin und mixte aus billigen Rohstoffen Duftwasser zusammen, das er, abgefüllt in kitschig bunten Flakons, als Parfüm an reiche Kaufleute verkaufte. Er machte Geld damit. Vor allem in der Nachbarschaft christlicher Festtage blühte das Geschäft. Er gründete eine Firma und lebte in Saus und Braus, und das in jenen Zeiten! Später lösten sich seine Gewinne in Spirituosen auf. Durch ihn lernte Oscar das Kettensaufen. Seitdem hieß der Alkohol bei ihm Bruder Martin.

      Das Gouffre Bleu hatte noch zu. Oscar hatte die Schlüssel. In Kürze würde der Klavierstimmer kommen. Er