"Du kennst meine Schw ächen."
"Wenn es denn eine ist.”
Sie lächelt. Auch ihr Lächeln ist jung und frisch. Oskar kehrt, das Kuchenblech in den Händen, ins Zimmer zurück. Er bleibt, ohne es abzusetzen, stehen, die Szene betrachtend, versonnen, grüblerisch.
Die frühen Jahre. Oskar sieht seine Frau, wie er sie damals sah, auf den Schiefertafeln der Zeit. Er denkt an etwas, das er lange verdrängt hat, an ihren ausschweifenden Lebenswandel jener Periode. Pflücke die Rose, eh sie verblüht… Die Rose, ja, das war ihr das Leben, das eigene. Sie stürmte unter vollen Segeln dahin, unter anderem von der fixen Idee angetrieben, die Blüte ihrer Jahre könnte bereits am Ausgang der nächstfolgenden Nacht ein jähes Ende finden. Sie hatte nicht nur mehrere Liebhaber, sie hatte mehrere gleichzeitig. Sie war eine attraktive Erscheinung. Sie konnte sich ihre Verehrer aussuchen. Nur suchte sie sich in der Regel die falschen aus. Es war keine verletzte Eitelkeit, die Oskar so urteilen ließ. Es gab andere, neutralere Beobachter, die das ebenso sahen, und auch Constanze selber gab es später, mit einer Ausnahme, zu. Fast alle ihre Affären hatte sie mit Künstlern, ein Maler war darunter, ein Poet, ein Cellist, ein Schauspieler und einmal auch ein - Skilehrer.
Oskar ertrug diese für ihn sonnenfinsteren Phasen mit zusammengebissenen Zähnen und mit Schlaflosigkeit. Seine Frau wurde ihm fremd. Es kostete ihn alles sehr viel Kraft, verwirrte seinen Verstand, der einem bei solchen Anlässen ohnehin eher im Wege steht. Er sagte sich nur immer wieder: Es geht vorüber, es geht vorüber. Sie wird zurückkommen. Und sie kam zurück. Jedes Mal…
“Oskar! Was machst du nur? Du solltest doch den Kuchen nicht mit dem Blech bringen!”
“Nein? Wie denn?”
“Ihn auf den großen Teller tun, er stand direkt daneben.”
“Ach so. Entschuldige.”
“Lasst nur, er schmeckt ja bestimmt auch so.”
“Nein,Timo.Wie sieht das denn aus? Wir sind hier doch nicht in der Backstube.”
Constanze nimmt Oskar rasch das Blech aus den Händen und verschwindet kopfschüttelnd in der Küche. Timo widmet dem Freund einen barmherzigen Blick.
“Sie hat schon irgendwie recht.”
“Irgendwie, ja.”
“Komm Oss, genehmigen wir uns in der Zwischenzeit einen Cognac.”
Timo wirft den Kopf zurück, um die Stirn von einigen Strähnen seiner dichten, blonden Mähne zu befreien. Es geschieht auf eine fast feminine Weise. Oskar schaut zu. Er selber ist kahl, seit er achtundzwanzig ist. Es hat ihm nie gefallen, doch hat er sich, wie man es eben tut, daran gewöhnt. Constanze meinte einmal, er habe einen Charakterkopf, da würde ein Haarkleid lediglich ablenken. Seltsam nur, dass fast alle ihre Liebhaber über dichtes, lockiges Haar verfügten.
“Und wie läuft es so im Job?”
“Ich reise viel durch die Lande.”
Timo besitzt ein Kameraauge. Er ist begabt in dieser Hinsicht, aber er ist auch unberechenbar. Er tut alles, wenn überhaupt, auf die letzte Minute. Oskar hat einmal mit ihm in einem Projekt zusammen gearbeitet. Es wurde nie fertig. Der Freund hielt keinen Termin ein. Wenn man ihn brauchte, tauchte er ab. Und er hatte stets fantasievolle Ausreden. Oskar hat sich so manches Mal gefragt, wie Timos Auftraggeber eigentlich mit diesen Unregelmäßigkeiten zurecht kommen?
Der Freund gehört zu jener ja nicht seltenen Spezies von Menschen, die eine Geschichte so lange erzählen, bis sie selber daran glauben. Aber er ist andrerseits ein charmanter Plauderer, ein guter Gesellschafter. Und ein Hypochonder. Es findet sich keine Krankheit, kein Gebrechen, worunter er nicht irgendwann glaubt gelitten zu haben. Und all die Frauengeschichten? Sie sind wahrscheinlich sein eigentlicher Lebensborn. Immerhin, mit Timo hatte Constanze nie etwas. Da ist sich Oskar einigermaßen sicher. Obwohl es so sein könnte oder so hätte sein können. Vielleicht hat er es nie versucht, weil er vor ihr zu viel Respekt hat, jedenfalls nicht deshalb, weil sie die Frau eines guten Freundes ist. Und sie? Hätte sie es nicht gerne getan? Oskar kennt darauf die Antwort nicht, und will sie letztlich auch nicht kennen.
“Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen, Oss?”
“Vor mehr als einem halben Jahr, glaube ich.”
“Ja. Da hattet ihr, Conny und du, gerade euer Kriegsbeil begraben. Ich war sehr erleichtert, seinerzeit, musst du wissen.”
“Ach ja?”
“Ich habe euch immer dafür bewundert, dass ihr es solange miteinander aushaltet.”
Oskar lächelt sanft. Die Gefühlsregung des Freundes wirkt durchaus unverstellt. Sie unterbrechen ihr Gespräch. Constanze ist zurückgekommen. Der Cognac muss warten. Oskar geht und öffnet die Terrassentür. Der Regen hat aufgehört. Würzig und milde strömt der feuchte Atem der Nacht herein, im Dunkel von Licht umfangen. Es ist Vollmond.
*
Bruder Martin war wieder aufgetaucht, hatte ihn überredet zu bleiben, die ganze Nacht über. Ehe Oscar, nach einem Zug durch verschiedene Bars, an einem Tisch mit Unbekannten zunächst beim Kartenspiel verloren hatte, um anschließend volltrunken tischunter zu sacken, biwakierten in seinem Kopf noch abgesägte Bilderfolgen (er wusste nicht woher, noch warum) die, wären sie von nüchterner Hand geordnet worden, wohl keine stabile Reihenfolge, aber immerhin einen gewissen Sinn ergeben hätten.
Er waren im Kern zwei Szenen, ihre Bilder verschränkten sich, die letzten herzten einander wie zwei Geschwister, die einander lange nicht gesehen haben.
A: Am Trocadéro. Er wurde erwartet, an der Plattform, von wo aus man umfassend Eiffelturm plus Marsfeld überblicken kann. Dort stand ein Mann, beschattete mit einer Hand die Augen unter der hohen Stirn. Auch die Sonne stand hoch. Der Turm war hoch. Sie war Oscar bislang nie aufgefallen, diese alpine Stirn. Seine Verabredung trug das Haar neuerdings streng zurück gekämmt. Daran musste es liegen. Es sollte ihr letztes Treffen sein. Es gab Umstände (von denen er erst später erfuhr), die Oscar veranlassten, von weiteren Kontakten Abstand zu nehmen.
“Wussten Sie, das es dort oben in diesem eisernen Wahrzeichen einige verborgene Räume gibt?”
“Nein.”
“Sie dienten dereinst Gustave Eiffel als Arbeitsklause.”
“Ah ja? Welch schönes Versteck…“
B:13. Arrondissement; einfaches, aber leckeres Essen, Sägespäne auf dem Fußboden, Papierdecken auf den Tischen, krumm gesessene Stühle; ein Tunesier führte das Lokal. Oscars Blick verhakte sich in einem Kleidungsstück von Garcia Varga. Es war eine eng sitzende, schwarz-weiß gestreifte Weste, die wirkte, als wäre sie Teil einer Dienstkleidung.
“Und wo hat es Sie hin verschlagen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?”
“Ich bin jetzt Butler im Dienste einer englischen Lady.”
“Hier in der Stadt?”
“Etwas außerhalb, in der Nähe von Louveciennes.”
“Ihre berufliche Laufbahn ist schon kurios, gewissermaßen polyphon. Ist die Lady denn verträglich?”
“In einem Jahr, schätze ich, könnte ich ihr Privatsekretär sein.”
“Oh, tatsächlich?”