“Schlecht in Gelddingen, der Mann. Beschäftigte sich zu viel mit Poesie.”
Das Interieur des Clubs war einem Aquarium nachempfunden. Es sah, so empfand Oscar es, etwas lemurenhaft aus. Aber waren so nicht große Teile der Gegenwart, ja, der ganzen hiesigen Epoche? Es gab einige echte Schaubecken. Mohun hatte die Einrichtung weitgehend belassen, wie sie war, nur die Bar pulste jetzt in schrillen, hastigen Neontönen, und die Bühne war vergrößert worden.
Seit Oscar nicht mehr bei Ferenczy arbeitete, arbeitete er hier. Letzteres war die Ursache, die ersteres zur Folge hatte. Ihm jedoch schien es, als lägen zwischen beidem ganze Dekaden, umzäunt von einem Karussell aus Ereignissen, deren Reihenfolge nicht mehr klar zu beziffern war.
“Alles in Ordnung?”
Etwas legte sich mit sanftem Wiegeschritt auf Oscars Trommelfelle. Es war die Stimme Mohuns. Der hatte unbemerkt den Clubraum betreten. Oscar drehte sich um und antwortete stumm mit einem Kopfnicken. Der Klavierstimmer war bereits wieder gegangen.
“Komm, Oscar, es wartet noch eine Aufgabe auf dich.”
“Und was, wenn man fragen darf?”
“Ich erkläre es dir später.”
Sie traten hinaus ins Freie. Mohun war ohne Wagen gekommen, oder sein Wagen war bereits wieder abgefahren.
Es sei nur ein paar Häuserblocks entfernt, sagte Mohun. Sein Schritt war langsam, federnd, gelassen, als hätte er alle Zeit dieser Welt. In einem Torbogen auf der gegenüberliegenden Straßenseite wartete jemand auf sie. Oscar erkannte die Gestalt bereits von weitem. Es war Saloua, die dort wartete, vor einem Monoprix Laden. Ihm war, als winkte sie zu ihnen herüber. Doch vielleicht täuschte er sich. Unerwartet stieß Mohun ihn mit einer Frage in die Seite.
“Du magst das Mädchen, nicht wahr?”
“Sie könnte die Sonne sein, um die ich kreise.”
Oscar war von der Unmittelbarkeit seiner Reaktion selber überrascht. Mohun sonderte bei dieser Antwort ein Lächeln ab, das etwas von einer Daumenschraube hatte und enthielt sich weiterer Kommentare.
Hätte er es dennoch getan, seine Worte wären zweifelsfrei im Lärm eines Automobils versickert, das eben dicht an ihnen vorüberfuhr. Etwas flog vom Pflaster der Straße auf. Das Auto hatte eine Kronenbourg Flasche überfahren. Oscar blieb, als sie die Straßenseite wechselten, einen halben Schritt hinter Mohun, der nun unvermittelt etwas schneller ging. Was konnte er schon anderes tun?
Die zwei Männer waren einander das erste Mal bei Ferenczy begegnet, unter Umständen, die Oscar, hätte er die Möglichkeit dazu gehabt, mutmaßlich versucht gewesen wäre, anders zu wählen. Eines Abends stand ein weißer Citroën vor dem Eingang des Rapzodie. Es war um Mitternacht. Mohun kam nicht allein. Zwei Männer begleiteten ihn, der eine war Joe Le Brie. Sie grüßten nicht, als sie eintraten. Sie marschierten stramm auf Ferenczy zu, nahmen ihn zangengleich in ihre Mitte und verschwanden zu viert in dessen Büro. Oscar legte sein Instrument beiseite, sah Garcia-Varga fragend an. Dicke Luft, signalisierte dieser stirnrunzelnd. Eine knappe Stunde später tauchten die unangemeldeten Gäste wieder auf. Ferenczy, der nach ihnen aus seinem Büro trat, war leichenblass. Er sagte nichts. Und niemand fragte ihn.
Mohun, der Oscar im Hintergrund stehen sah, trat auf ihn zu und sprach ihn an. Oscar erinnerte sich der Worte, die Mohun an ihn richtete. Er habe, sagte jener mit einem kühlem Lächeln, bereits von ihm gehört... Erst einige Zeit später sollte Oscar erfahren, was es mit dem unerwarteten Besuch auf sich hatte.
Während sie sich, so kam es Oscar wenigstens vor, wie durch Sirup watend, Saloua näherten, lief ihnen ein etwa zehnjähriger Junge vor die Beine. Er baute sich vor Mohun auf und machte, während dieser zum Stehen kam, inmitten seiner wilden, schwarzen Locken ein wichtiges Gesicht.
“M’sieur, warum haben Sie einen Hut auf?”
“Weil ich dann schärfer sehen kann, mein Kleiner…”
Oscar sah gerade gar nichts scharf. Er verscheuchte die Bilder. Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob es wirklich gestern gewesen war, dass der Klavierstimmer, dass Mohun, dass Saloua... Er befestigte den Blick an dem goldenen Hufeisen, das die zwei Stufen tiefer liegende Eingangstür des Nachtclubs bewachte und welches man, begehrte man Einlass, gegen das schwarze, polierte Holz schlug, woraufhin sich eine kleine Luke öffnete, durch die ein Türsteher spähte, was Oscar an eine weitere, noch kleinere Luke erinnerte, an der Tür zu jener Zelle, in der er sechs Monate der ihm zugeteilten Lebenszeit hatte zubringen müssen... Ich sollte, dachte er, nun langsam doch einmal heimwärts ziehen. Wo aber war das? In einer Dachmansarde?
Kapitel 4
Constanze liegt mit Kreislaufbeschwerden im Bett.
Es ist schwül, im Haus und außerhalb. Oskar ist unterwegs, um Medikamente für seine Frau zu besorgen. Er hat das Auto, nicht das Rad genommen, weil letzteres einen Platten hat. Er hätte das zweite Rad nehmen können, aber dessen Sattel ist sehr niedrig und lässt sich nicht verstellen. Fest gerostet! Es gibt Nachrichten aus der Heimat, aus Frankfurt, aus dem Architekturbüro.
Seine Arbeit reist ihm nach oder jedenfalls Aberrationen davon. Irgendwie fehlt sie ihm auch, die Arbeit. Er durchstöbert einmal am Tag auf seinem Tablet-PC die aufgelaufenen Emails, und er tut es mit einer gewissen Hingabe. Es ist eine Hingabe, die das Ungefähre zur Schwester hat. Sie hätten einen lukrativen Auftrag in Aussicht, schreiben ihm die Kollegen Berg&Thaddeus, den Bau einer städtischen Sporthalle…
Als Oskar sich dem Ort nähert, sieht er mehr Schafe als Menschen. Eine Herde schwarzweiss-grauer, quäkender Pelzknäuel wird über die Hauptstraße getrieben. Er hält an und wartet. Er tut es, ohne zu murren. Er nimmt sich Zeit. Zwar gehört sie ihm nicht, wie er es früher einmal, als kleiner Junge, noch glaubte, doch schenkt sie ihm ein paar geschmeidig knieende Augenblicke.
Die Melodie des keimenden Tages muss noch konkubinenhaft über dem Schweif jenes Regenbogens geträllert haben, der heute in der Frühe weithin sichtbar am Himmel stand, ehe sie sich zu den alltäglichen Klangfarben gruppierte.
Nachdem Oskar den Motor des Wagens abgestellt hat, zieht er in einer Geste verweilender Rückbesinnung seine Geldbörse hervor, öffnet sie und betrachtet das Foto, das seit knapp einem Jahr eine Klarsichttasche darin belegt. Es ist ein Foto, das seinen Vater zeigt. Er hat es in dem braunen Koffer gefunden. Er gibt nicht viele Fotos von ihm. Es zeigt ihn als Mitdreissiger. Der Blick auf dem Lichtbild ist auf den Betrachter ausgerichtet. Man schaut in zwei Augen, die dunkel sind, einen Hauch abwesend, eine Spur hervorquellend. Darunter die Nase, klein, wohlgeraten, noch nicht aufgetrieben vom Alkohol. Die Lippen haben einen angenehmen Schwung, sind aber leicht zusammengezogen, so als habe sein Besitzer flüchtig in eine Zitrusfrucht gebissen.
Ich habe, denkt Oskar, ein Allerweltsgesicht, je stärker, je älter ich werde. Der Vater dagegen war ein gut aussehender Mann. Etwas melancholisch vielleicht, im Ausdruck. jedoch, es stand ihm. Etwas spannungsarm, eingesunken in der Körperhaltung vielleicht, das gäbe dann ein paar Abzüge in der Gesamtnote. Hätte er mehr Sport getrieben, wie der Sohn.... aber es waren halt andere Zeiten.
Es geht wieder voran. Er sollte sich jetzt doch ein bisschen sputen. Constanze wartet sicher auf seine Rückkehr. Es geht ihr wirklich schlecht. Was ist es, überlegt Oskar, während er weiterfährt, was sie beide im Innersten zusammenhält? Ist es, abseits der Gefühls-Gezeiten, exterritorial sozusagen, diese aber gleichwohl prägend,