Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
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fast lautlosen Eindruck. Sein Blick war dunkel, doch warm, sein Mund schmal, seine Ohren dagegen riesige Lappen. Er hatte schulterlanges, kohlschwarzes Haar. Über Wange und Hals zogen sich lange Narben. Das, so erfuhr Oscar von Saloua, wäre die Peitsche seines Vaters gewesen. Pepe war mit 23 nach Paris gekommen. Er lebte hier illegal. Jetzt war er zwei Jahre älter.

      Sie hatten sich vorgestern zum ersten Mal gesehen. In einem Abbruchhaus im Osten der Stadt. Es war möglicherweise gar kein Abbruchhaus, aber Oscar kam es so vor. Es hausten dort Menschen, die im Untergrund lebten.

      “Du musst keine Angst haben, ich kenne mich hier aus.”

      “Ich habe keine Angst.”

      Oscar folgte Saloua in einen düsteren Hausflur. Dann betraten sie ein nahezu kahles Zimmer, in dem ein Dutzend Personen auf alten Matratzen zusammenhockte. In einer Ecke wurde gekocht, auf einem Gaskocher mit Rostfraß. Es roch nach Huhn, nach Reis, nach scharfen Gewürzen. Eine nackte Glühbirne, die unter der Decke steppte, erhellte den Raum. Eine einzige Person stand. Es war Pepe. Während die übrigen, überwiegend Schwarze, munter miteinander schwatzten, hielt er schweigsam seinen Posten, rauchte und starrte zum Fenster hin, das mit Holzlatten vernagelt war. Als er Saloua sah, löste er sich aus seiner vereisten Haltung, kam zu ihr herüber, sie umarmten sich.

      “Das ist Pepe.”

      “Pepe, das ist Oscar.”

      Oscar machte einen halben Schritt zurück, hob, in einer Grußgeste, die Hand geöffnet, den rechten Arm. Er tat es rasch. Er wollte, wie gewöhnlich, jeden Händedruck vermeiden. Meistens, so wie hier, gelang ihm das auch. Er wirkte in dieser exotischen Runde selber ein wenig exotisch, in seinem korrekt gebügelten dunkelgrauen Anzug, den schwarzen Lackschuhen. Niemand schien jedoch für dergleichen ein Auge zu haben.

      Sie verweilten nicht lange. Sie gingen in ein Bistro. Saloua erklärte die Lage. Pepe nickte zweimal mit dem Kopf. Es hatte etwas von einem Hund. Ansonsten blieb er vorerst stumm. Auch Oscar blieb vorerst stumm. Sie trafen eine Verabredung für den nächsten Montag, Oscar und der Argentinier. Pepe würde, so vereinbarte man es, in seine Mansarde kommen. Ganz umsonst würde es nicht sein. Ein paar Scheine, gab Saloua ihm zu verstehen, müsste Oscar dafür, dass er Pepes Hilfe in Anspruch nahm, schon hinblättern. Nach dem knapp gehaltenen Gespräch trennten sich die drei. Saloua und Pepe gingen zurück zu der Hausruine, Oscar stieg am Père Lachaise in den nächsten Bus.

      In der Dämmerung, wenn alte und nicht so alte Lichter verspätet den CanCan im Petticoat tanzten, konnte Paris sich unversehens in ein geheimnisvoll illuminiertes Fabelwesen verwandeln. Das war heute der Fall. Was ist schon so wichtig, murmelte Oscar, während er aus dem Fenster des sanft brummenden Verkehrsmittels äugte, dass es unbedingt getan werden muss, außer vielleicht einen Brand löschen, eine Geburt einleiten oder eine Not-Operation durchführen?

      Der Gedanke umkreiste ihn strichweise, kam schließlich näher und wurde zu einem Schnellzug, der jählings von den Schienen sprang. Er fühlte sich gekräftigt und staunte hierüber, ja, er war gar von einer dunstigen Zuversicht erfüllt und gedachte der Zeiten, zu denen er im seelischen Schneckengang voran gekrochen war.

      “tiger Himmel! Junge! Du bist gesund, du hast zwei Arme, zwei Beine, bist talentiert. woran leidest du eigentlich?

      Kummer, Jammer, Schwermut. Selbstmitleid und Seelenpein. Als Knabe fühlte er sich öfter krank, ohne es zu sein. Seine Mutter hoffte, aus ihm könnte eines Tages ein Konzertpianist werden, der in allen bedeutenden Häusern der Welt auftrat, eine Berühmtheit, etwas ganz Großes. Sein Vater war Musiklehrer und schwach. Dann gab es da noch den Hausarzt, die einzige männliche Person in seiner Umgebung, die Oscar Eindruck machte. Er war es, der eines Tages obige Worte sprach. Eines anderen Tages erfuhr Oscar, dass seine Mutter mit dem Arzt heimlich ein Verhältnis hatte. Das bewirkte, dass Oscar zeitweilig eine Art katatones Verhältnis zu Ärzten der Allgemein-Medizin und zu Ärzten im Allgemeinen entwickelte.

      Oscar entstieg dem Bus. Die Vergangenheit hatte viele Arme, kurze oder lange. Er schritt durch das Dunkel und dachte daran, dass er noch vor Tagen, unter Kopfschmerzen, stundenlang auf diesem elenden Instrument geübt hatte, das ihm von Ferenczy zur Verfügung gestellt worden war. Es war ein bisschen geflunkert, als er anfangs verkündet hatte, er beherrsche es. Er hatte angenommen, er käme müheloser damit zurecht. Schließlich sah er ein, dass er noch eifrig würde üben müssen, um für das, was auf ihn wartete, gerüstet zu sein.

      Dann hatte er Saloua ins Vertrauen gezogen. Es war ein Wagnis gewesen, das zu tun. Sie hätte es ja ihrem Vater hinterbringen können. Tat sie aber nicht. Im Gegenteil, sie wollte Oscar unterstützen. Sie kenne jemand, sagte sie, der ein bisschen Hilfestellung geben könne, ein anderer Bandoneon-Spieler. Warum ihr Vater den nicht engagiert habe, wollte Oscar von ihr wissen? Berechtigte Frage. Ihr Vater, lautete die Antwort der Tochter, traue Pepe nicht. Pepe, ihr argentinischer Bekannter, hatte bereits mehrmals im Gefängnis gesessen, darunter zweimal wegen Diebstahls.

      “Warum hilfst du mir, Saloua?”

      “Weil ich die Traurigkeit mag, die ich in deinen Augen finde.”

      Kapitel 2

      Er sieht sich, wie er den Koffer beiseite legt. Das Gepäckstück hat bis vor kurzem unbeachtet in einer Abseite gelegen. Seine torfbraune, harte Lederhaut ist punktiert mit bunten, jetzt verblassten Aufklebern aus allen Teilen der Welt. Der Vater ist, wie er weiß, eine Zeit lang viel gereist, nach dem Krieg, vor der Geburt des Sohnes. Er ist zur See gefahren. Das war, als er ein junger Mann war. Vor dem Krieg, oder präziser: zwischen den Kriegen, den beiden Weltkriegen. Sie tragen den gleichen Vornamen, beinahe. Ansonsten gibt es, so hat der Sohn es wenigstens bis vor kurzem betrachtet, recht wenig, worin sie einander ähnlich sind.

      Oskar hat vor Tagen begonnen, in Aufzeichnungen und Briefen zu lesen, wahllos zunächst. Die Pariser Blätter finden eher seine Aufmerksamkeit als das Kriegstagebuch. Er kennt Paris flüchtig, war mal für eine Woche dort. Als Soldat war sein Vater in Norwegen eingesetzt. Ein ruhiger Posten. Dennoch, einmal, so erfährt Oskar, wollte er desertieren. Er tat es nicht. Er kam unbeschadet durch den Krieg. Aber er war danach allein. Seine erste Frau hatte ihn, während er fort war, verlassen, hatte sich mit einem Franzosen zu den gallischen Nachbarn abgesetzt. Er hörte nie wieder etwas von ihr.

      Als der Vater in Paris war, war Oskar Junior schon ein angehender Jungmann. Der Vater blieb nicht lange in der französischen Metropole, zwei Jahre. In dieser Zeit lebte er von seiner Familie bereits getrennt. Das ist dem Sohn natürlich geläufig. Wovon er bislang wenig wusste, ist, was der Papa während seines Aufenthalts in der Fremde so getrieben hatte…

      Vergangene Nacht wurde er Zeuge eines Attentats. Es geschah auf einem weiten Platz, den eine dicke Wolke von Menschen füllte. Oskar war darin ein Korn. Er hörte den Schuss. Er sah den Sturz. Das Opfer war ein hochrangiger politischer Amtsträger. In dem nachfolgenden panischen Wirrwarr wurden zahlreiche Personen verhaftet. Darunter, zu seiner grenzenlosen Überraschung, auch er. Man unterzog ihn einem Verhör. Man konfrontierte ihn mit zwei Fotografien, die man übergroß auf eine Leinwand warf. Jedes zeigte ein männliches Gesicht, das von einer Kapuze nur leicht verdeckt wurde. Es waren Aufnahmen, geschossen während der Veranstaltung inmitten der Zuschauermenge.

      Auf dem einen Foto sah man das Gesicht mit geschlossenen Augen, auf dem zweiten starrte es himmelwärts. Zwei Schnappschüsse. In der Tat sah die Person Oskar ähnlich. Und er sah sich plötzlich unter Verdacht. Selbst wenn sich zeigte, dass er unschuldig war, dachte er, fiel nicht dennoch ein Schatten auf sein zukünftiges Leben? Aber immerhin, so dachte er weiter: auf den Fotos sehe ich gut aus. Glücklicherweise kam er bald wieder frei. Das hatte er einem Mann zu verdanken: Mohun. Wie er das anstellte, erfuhr Oskar nicht. Er wurde von Mohuns Leibwächter Joe le Brie mit dem Wagen abgeholt. Als sie ans Ziel kamen, erwartete Mohun ihn bereits.

      “Dir fehlt ein starker Wille, Oscar. Dennoch mag ich dich. Ich mag musisch veranlagte Menschen. Du könntest der Rücksitz meines Ichs sein. Ich erkenne das