Der Feind in meiner Ehe. Wally Gruber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wally Gruber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991078210
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versuchte mich an Mozarts berühmtem Marsch. Natürlich war ich nicht sehr erfolgreich, aber ich hatte mich durchgebissen und war froh, dass die Tür zum schallisolierten Aufnahmeraum geschlossen war und mich niemand in meiner Stümperhaftigkeit hören konnte. Vor allem nicht die Angestellten meines Mannes!

      Nach meiner Übezeit verließ ich den Aufnahmeraum Richtung Regieraum, in dem Matthias gerade arbeitete. Prompt und mit breitem Grinsen präsentierte er die Tonaufnahme, die er gerade von meinem „Alla Turca“-Versuch gemacht hatte. Ich fühlte mich so erniedrigt und blamiert! Er hatte mir vorgeführt, wie schlecht mein Klavierspiel war. Ich konnte keine Worte finden, so sprachlos war ich. In diesem Aufnahmeraum übte ich nie wieder. Für viele Jahre hatte ich nach diesem Ereignis das Klavierspielen eingestellt. Sogar heute, nach so vielen Jahren, ist es mir lieber, wenn mich beim Klavierüben niemand hört. Der Schmerz sitzt noch immer tief. Mein Mann fand das alles einfach nur lustig.

      Nachdem ich mit Rebekka viele Wochen mit Vojta-Gymnastik gearbeitet hatte, stellte die Physiotherapeutin auf Bobath-Gymnastik um. Langsam, aber sicher drehte sich das Kind von selbst auf die Bauchlage und wieder zurück. Mit vierzehn Monaten fing Rebekka an, sich in den Vierfüßlerstand hochzudrücken. Ein Alter, in dem andere Kinder schon selbständig laufen. Sie war immer noch sehr zart und hatte trotz der vielen Übungen recht wenig Kraft. Aber ich hatte sie ohne Pause die letzten Monate gefördert. Nun fing, sehr langsam und zögerlich, das Krabbelalter an. Wir hatten schon einen kleinen Erfolg geschafft. Aber was würde aus ihrer motorischen Entwicklung in Zukunft werden? Mit anderen Babys verglichen, hatte unser Kind einen deutlichen Entwicklungsrückstand. Ich war skeptisch, aber immer noch hoffend, dass dieser Rückstand würde ausgeglichen werden können. Wir arbeiteten doch so intensiv daran! Das eigene, aktive Sporttreiben hatte mich gelehrt, niemals aufzugeben. Genauso sah ich das in Bezug auf Rebekka. Sie machte jeden Tag brav ihre Übungen mit mir und wehrte sich nicht dagegen. Unser täglich Brot.

      Mit zwei Jahren kam die Frühförderung dazu, die einmal pro Woche bei uns in der Wohnung stattfand. Rebekka konnte nun endlich frei laufen, aber sie war noch immer sehr wacklig unterwegs. Außerdem hatte sie ganz fürchterliche X-Füße. Sie lief quasi auf der Innenseite des Fußes, wenn sie keine guten Schuhe anhatte.

      Meine damalige Stepptanzlehrerin war Hippotherapeutin und sie sagte mir, ich solle mit Rebekka mit dem Training auf einem Pferd beginnen. Ohne Sattel müsste sich das Kind an der Mähne festhalten und die Knie fest ans Pferd drücken. Durch das Ausgleichen der Bewegung des Pferdes würde außerdem ihr schlechtes Gleichgewicht geschult. Gesagt, getan. Den Ratschlag befolgten wir gern und ich fuhr mit ihr zweimal pro Woche zu einem Pferdehof in der Nähe und führte sie zwanzig Minuten auf einem Pony sitzend durch das Gelände. Durch das Ausgleichen der Bewegungen des Pferdes bekam sie ein viel besseres Gleichgewicht und durch den Innendruck der Schenkel drehten sich allmählich ihre Füße und sie konnte sich mehr auf die Fußsohle stellen. Ich führte sie auch noch im Gelände umher, als ich zum zweiten Mal schwanger und unser Sohn Julian auf die Welt gekommen war.

      Trotz des monatelangen Reittrainings fiel Rebekka beim Laufen oft hin und ihre Reflexe waren so verzögert, dass sie viele Wunden an Stirn, Kinn oder an den Schläfen davontrug. Auch die Feinmotorik war nicht altersentsprechend, obwohl die Therapeuten der Frühförderung sich viel Mühe gaben. Die Entwicklungsberichte waren jedes Mal ernüchternd. Wir mussten uns eingestehen, dass Rebekka sich nicht wie ein normales Kind entwickeln würde. Wir waren traurig und ratlos.

      Auch ihre Sprache bestand nur aus ein paar Silben und wenigen Wörtern. Sie konnte sich nicht richtig ausdrücken. Wir gingen auf die Suche nach einem geeigneten Kindergarten für unser Töchterlein. Gott sei Dank fanden wir ganz in der Nähe unserer Wohnung einen wunderbaren Integrativen Kindergarten, in dem behinderte und nicht-behinderte Kinder zusammen aufwachsen durften. Die Leiterin der Einrichtung, eine unfassbar positive, liebenswerte und offene Frau, hatte die kleine, zarte Rebekka gleich ins Herz geschlossen und im Alter von drei Jahren und acht Monaten begann für unser Mädel die Kindergartenzeit.

      Sie fühlte sich sofort pudelwohl. Zeitgleich suchte ich nach einer weiteren motorischen Entwicklungsmöglichkeit und fand sie beim Mutter-Kind-Turnen eines Sportvereins. Dies sollte für viele Jahre unser nachmittäglicher Zeitvertreib einmal pro Woche bleiben. Julian war bald auch dabei. Er entwickelte sich prächtig. Nun erst hatte ich einen Vergleich. So wie er sollte sich also ein Kind normalerweise entwickeln.

      Rebekka sprach immer noch sehr schlecht und artikulierte, ohne Spannung in den Mundraum zu bringen. Sie nuschelte sehr und nur wenige Menschen konnten sie verstehen. Ihr selbst machte das nichts aus. Sie war ein sehr fröhliches Kind.

      Mit vier Jahren fing sie an, mit Logopäden*innen zu arbeiten. Die ersten Jahre zweimal pro Woche. Später nur noch einmal. Sieben lange Jahre fuhr ich mein Kind zur Sprechtherapie und holte sie danach wieder ab. In dieser Zeit wurde vieles besser, aber bis heute artikuliert Rebekka nicht sauber und muss immer wieder daran erinnert werden, „ordentlich“ zu sprechen. Auch der Wortschatz ist begrenzt. Sie kann sich gut mit Menschen unterhalten, aber sie verwendet dafür nur einfache Wörter und Satzstrukturen.

      Als Rebekka gut vier Jahre alt war, hörten wir von einem Bekannten, dass eine Therapieform in Belgien dem Kind eventuell helfen könnte. Er selbst wurde dort von seiner Legasthenie geheilt und fand es ziemlich unglaublich, was mit ihm passiert war. Also informierten wir uns und fuhren zur „Tomatis-Therapie“ nach St. Truiden, Belgien, 600 Kilometer von zu Hause entfernt. Beim ersten Besuch sollten wir zehn Tage bleiben. Mittlerweile hatte der Entwicklungsstand des Mädchens eine deutliche Retardierung erreicht. Vor allem der sprachliche Bereich machte uns große Sorge. Rebecca war durch die Hypotonie der Mundmuskulatur kaum zu verstehen. Die weiteren Besuche im Tomatis-Zentrum waren jedes Mal für fünf Tage anberaumt. Alle sechs Wochen machten wir beide uns auf den Weg. Ich tat alles, um dem Mädchen bei seiner Entwicklung zu helfen. Kämpfte mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft gegen die Entwicklunsverzögerung meiner Tochter an.

      Rebekka machte jedes Mal kleine Entwicklungssprünge nach vorne und so brachten wir sie in den kommenden drei Jahren insgesamt achtundzwanzig Mal nach Belgien, um die Entwicklung unserer kleinen Tochter anzukurbeln. Fünfundzwanzig Fahrten davon hatte ich alleine mit ihr unternommen.

      Die Kosten dafür mussten wir selbst übernehmen. Die Krankenkasse hatte es abgelehnt, diese alternative Therapieform zu bezahlen.

      Als Rebekka sechs Jahre alt war, ließ ich sie einen ganzen Tag lang im Kinderzentrum München untersuchen. Man stellte einen deutlichen Entwicklungsrückstand im motorischen, sprachlichen und kognitiven Bereich, also eine Retardierung, fest. Den Grund dafür konnten mir die Ärzte nicht sagen. Ich war enttäuscht und fühlte mich zum ersten Mal ausgelaugt. Ich hatte sechs Jahre lang wie eine Löwin um die Entwicklung meiner Tochter gekämpft. Sollte das alles umsonst gewesen sein? Die vielen Arztbesuche, die Therapien und der Logopädieunterricht? Die Fahrten nach Belgien? Ich war das erste Mal richtig frustriert. Ich hatte das alles doch gemacht, damit eine Besserung eintritt!

      Die ganze Familie hatte gehofft. Wir wurden von der Realität bitter enttäuscht.

      Zum Schuleintritt besuchte Rebekka eine Förderschule in einer kleinen Stadt. Nach fünf Jahren wechselte sie auf eine Schule für Körperbehinderte. Sie hatte zusammen mit ihrem Behindertenausweis nun auch offiziell den Stempel „Behinderung“ bekommen. Das war nicht leicht für uns zu akzeptieren. Mir ging es nicht gut. Mit Matthias konnte ich darüber nicht reden. Er hätte es nicht verstanden. Er meinte nur: „Du machst das super mit Rebekka.“ Das sollte auch so ziemlich das einzige Lob bleiben, das er mir aussprach.

      Mit ungefähr acht Jahren fing unsere Tochter mit dem Reiten an. Sie brauchte länger als die anderen Kinder in der Gruppe, aber sie lernte, sich gut auf dem Pferd zu halten und es vorwärtszureiten. Schließlich fing sie nach einigen Jahren sogar mit dem Springen an. Ich war sehr erstaunt, dass ihr das ohne viel Mühe gelang.

      Im Winter zuvor hatte sie mit ihrem Bruder Julian den ersten Skikurs besucht. Auch hier brauchte sie länger als er, aber schlussendlich konnte sie in langsamen Bögen eine flache Piste hinunterfahren. Ich war sehr stolz auf sie!

      Bis heute zählen Reiten, Schwimmen, Skifahren und Radfahren zu ihren Lieblingssportarten. Fußball musste sie immer mit den beiden Brüdern spielen.

      Inlineskates