Im goldenen Käfig. Aicha Laoula. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Aicha Laoula
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783906287041
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»Sag ihm bitte, dass die deutsche Aussprache zu schwierig für mich ist.« Welch dumme Ausrede! Selbst ein Kind würde sie durchschauen. Und nun? Wer würde mich Lesen und Schreiben lehren?

      Glücklicherweise boten mir die beiden Freundinnen, die ich seit Kurzem kannte, Carla und Pina, an, mich zu unterrichten. Carla war 30 Jahre alt, war klein, hatte kastanienbraunes Haar, ein feines Gesicht und ein hübsches Lächeln. Pina war 26, groß und blond. Sie lächelte stets und war sehr nett. Sie waren beide gepflegte Frauen, stets klassisch gekleidet. Ursprünglich stammten sie aus Italien, daher brachten sie mir bei, auf Italienisch zu lesen und zu schreiben.

      Ich hüpfte vor Freude, wann immer sie vorbeikamen, um mir neue Wörter und Buchstaben beizubringen. Anfangs kamen sie am Abend, wenn Bilal zu Hause war, so konnte er für mich übersetzen, damit wir uns verstanden. Doch im Laufe der Zeit kamen sie am Nachmittag und wir kommunizierten mit Händen und Füßen miteinander. Damit ich sie verstand, kommunizierten sie auch untereinander mit Gesten und ich achtete darauf, zu verstehen, worum es sich handelte. So verließ Pina zum Beispiel die Wohnung, schloss die Tür hinter sich und klopfte dann an. Carla fragte von innen: »Wer ist da?« »Ich bin es, Pina!« Carla öffnete die Tür und sagte: »Hallo.« »Hallo.« »Komm rein!« »Danke.« Dann sagte Carla mit einer Geste zu Pina: »Bitte, komm herein.« Sie unterbrachen die Szene, bezogen mich mit ein und ließen mich alles wiederholen. Zuerst musste ich die Rolle der Hausherrin nachspielen, anschließend die des Gastes. Wir schüttelten uns vor Lachen über die Fehler, die ich in der Aussprache machte. Denn tatsächlich sprach ich die Sätze auf sehr seltsame Weise aus und verwechselte dabei ständig i mit e und umgekehrt. Das lag an der Eigenart der berberischen Sprache. Wir setzten die Szene fort und amüsierten uns blendend. »Wie geht es dir?« »Gut, danke. Und dir?« »Auch gut, danke.« Wieder ließen sie mich alles wiederholen und in die verschiedenen Rollen schlüpfen. »Was möchtest du trinken, Tee oder Kaffee?« »Einen Tee, danke.« Diejenige von uns, die den Tee angeboten hatte, tat so, als würde sie in die Küche gehen und einen Tee auf einem Tablett holen, in Wirklichkeit stand der Tee bereits fertig auf dem Tisch, mit süßem Gebäck und gerösteten Mandeln, das ich jedes Mal, wenn sie vorbeikamen, vorbereitet hatte.

      »Mit oder ohne Zucker?« »Mit Zucker, danke.« »Wie viele Löffel Zucker?« »Einen Löffel, danke.« »Möchtest du etwas Gebäck?« Sie zeigte auf den Tisch. »Ja, gerne, danke.« »Aicha, möchtest du auch einen Tee?« »Ja, danke.« »Mit Zucker oder ohne?« »Ja.« »Also, mit Zucker, ja?« »Ja, danke.« »Wie viele Löffel, einen oder zwei?« Sie zeigte mir die Anzahl der Löffel mit den Fingern. »Einen, danke.« So gingen meine lieben Freundinnen mit unterschiedlichen Gegenständen vor. Sie zeichneten zum Beispiel einen Schal, einen Mantel, einen Rock, einen Tisch, einen Teller und alles Mögliche andere auf einen Block und schrieben den Namen des Gegenstands unter jedes Bild. Diese Wörter musste ich auswendig lernen. Doch zuerst lehrten sie mich das Alphabet, das ich immer wieder schreiben musste, jeden Buchstaben Hunderte Mal, bis ich sie richtig schrieb. Nie zuvor hatte ich einen Stift in der Hand gehalten, noch hatte ich jemals einen Fuß in eine Schule gesetzt. Ich hatte jedoch das Glück, ein gutes Gedächtnis zu haben. Von klein an, als Sklavin, hatten mir meine ehemaligen Herrschaften Dutzende Dinge aufgezählt, die ich vom Markt holen musste. Ich musste sie mir alle merken und durfte nichts vergessen, sonst wäre ich schwer bestraft worden. Ich musste mir die Menge jedes einzelnen Gemüses, jeder Frucht und alle anderen Dinge merken. Um mich besser zu erinnern, erfand ich immer eine Art Film, mit allen Einzelheiten, die mir dann im Kopf blieben. Bis heute erstelle ich vor meinem geistigen Auge einen Film, wenn jemand mit mir spricht, während ich das Gespräch verfolge.

      Pina und Carla kamen einmal die Woche, und ich konnte es kaum erwarten, dass die sieben Tage vorübergingen, um den Unterricht fortzusetzen. Ich war begierig darauf, zu lernen und ich wollte alles und sofort wissen. Eines Tages fragte ich sie schüchtern, ob sie zweimal pro Woche kommen können. Zu meiner Überraschung stimmten sie zu und kamen ab sofort zweimal, anfangs für je eine Stunde, später zwei Stunden. Die meiste Zeit jedoch verbrachten wir lachend, wir tranken Tee und aßen süßes Gebäck und geröstete Mandeln, nach denen sie verrückt waren. Endlich konnte ich lachen und glücklich sein, wie alle anderen Menschen auch. Ab dem ersten Tag meines Lebens in der Schweiz fühlte ich mich in jeder Hinsicht wie neugeboren. Ich fühlte mich Teil einer Gesellschaft, von der ich nicht dafür verurteilt wurde, dass ich eine Sklavin gewesen war. Dies rief unbändige Freude in mir hervor. Ein Gefühl, dass ich während meiner gesamten Kindheit nicht verspürt hatte, außer im letzten Jahr, das ich mit meinen Schwestern auf dem Land verbracht hatte, bevor ich verheiratet wurde. Während meiner Kindheit glaubte ich sogar, dass ich kein Recht darauf hatte, zu lachen oder glücklich zu sein, schließlich wurde ich nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Tier behandelt, das man ausgesetzt hatte. Das Einzige, was mir damals noch fehlte, waren meine Schwestern und mein Dorf, die Sonne und der blaue Himmel und der Kontakt mit den Tieren.

      Carla und Pina gaben mir Aufgaben und ich übte und übte. Ich bat die Freunde von Bilal, die Italienisch sprachen, um Hilfe, wenn sie zu uns kamen. Sie halfen mir sehr gern und schließlich konnten wir sogar ein paar Worte miteinander wechseln. Bilal half mir auch, wann immer er konnte. Nach drei Monaten konnte ich auf Italienisch kommunizieren und sogar ein bisschen schreiben und lesen. Ich spürte eine unheimliche Freude darüber, lesen zu können. Lesen und Schreiben rief in mir ein Gefühl der Dankbarkeit hervor, das einfach nur wundervoll war. In meinem Kopf hatte sich eine neue Welt eröffnet, eine Welt voller Magie, in der ich endlich die Schriften entziffern konnte, die ich bis zu diesem Tag überall gesehen hatte, ohne ihnen einen Sinn oder eine Form geben zu können. Ich blieb stehen, um die Texte an den Eingängen der Lokale zu lesen und stand vor den Werbeplakaten, um sie wie ein sechsjähriges Kind zu entziffern, vor mich hin flüsternd, dass die vorbeigehenden Leute nichts bemerkten. »Die Leute sind nicht so dumm, dass sie nicht merken würden, dass du lesen lernst«, sagte Bilal eines Tages zu mir. Seine Bemerkung sorgte dafür, dass ich mich noch wertloser und dümmer fühlte, als sowieso schon. Ich schämte mich zu Tode und ab diesem Tag war ich noch vorsichtiger, damit niemand bemerkte, wie ich die Schriften in der Öffentlichkeit entzifferte.

      Pina und Carla behandelten mich, als gehörte ich zu ihrer Familie und ich liebte sie wie meine Schwestern. Ich lud sie mit ihren Familien zu uns nach Hause zum Essen ein und sie taten es mit mir und Bilal gleich. Bald lernte ich auch ihre italienischen, spanischen und portugiesischen Freunde kennen, die auch meine Freunde wurden, und ich lud auch diese ein. Am Ende war das Haus immer voller Leute, meine Freunde und die Bilals. Jeder wusste, dass man in unserem Haus viel lachte und scherzte. Wir tranken Pfefferminztee und ich servierte dazu geröstete Mandeln und süßes Gebäck. Und nicht zu vergessen, mein Couscous, nach dem alle verrückt waren. Ich hätte, um mich in die Schweiz zu integrieren, Deutsch lernen müssen, doch gerade erst hatte ich mich in die Gesellschaft der Italiener im Herzen der deutschsprachigen Schweiz integriert. Die meisten meiner italienischen Freunde sprachen kein Deutsch und waren somit auch nicht vollständig in die Schweiz integriert. Sie blieben in ihrem Kreis und ihrer italienischen Kultur. Nur die neue Generation, die in der Schweiz geboren und dort zur Schule gegangen war, hatte sich integriert. Die ältere Generation hingegen arbeitete hier und machte dann in Italien Urlaub, um anschließend ihr Leben in der Schweiz wie in Italien fortzusetzen. Mir gefiel ihre Mentalität sehr und ich blieb viele Jahre in ihrem Kreis. Glücklicherweise sprachen einige Schweizerdeutsche in Schaffhausen Italienisch, so konnte ich mich verständigen. Trotzdem fühlte ich mich immer als Ausländer, inmitten einer Stadt, deren Sprache ich nicht verstand. Erst Jahre später, als ich mich von Verlegenheit und Scham befreit hatte, bedauerte ich, dass ich die Gelegenheit, die sich mir damals geboten hatte, nicht ergriffen hatte, nämlich die, mit Tobias Deutsch zu lernen.

      In der Zwischenzeit schritt meine Schwangerschaft weiter voran, doch anstatt zuzunehmen, verlor ich weiter an Gewicht. Ich litt an Übelkeit und vertrug weder gekochte Lebensmittel noch Fleisch, nur ein paar bestimmte Früchte, Brot und Schokolade, die ich als Snack anstelle richtiger Mahlzeiten zu mir nahm. Ich verbrachte meine Tage mit Spaziergängen und der Hausarbeit. Sobald ich fertig war, suchte ich mir neue Arbeiten, doch irgendwann gab es nichts mehr zu erledigen. Ich stellte fest, dass die Hausarbeit in der Schweiz sehr einfach zu erledigen war. Die Waschmaschine wusch die Kleidung, ohne dass ich mich stundenlang über ein Becken beugen und sie von Hand waschen musste, wie ich es bei meinen ehemaligen Herren in Marokko getan hatte. Und es gab den magischen Staubsauger,