Monate vergingen und ich verlor weiter an Gewicht, weil ich nur wenig aß. Neben der Einsamkeit war es auch der Geschmack der Lebensmittel, den ich nicht mochte. Sogar das Brot schmeckte anders als in Marokko, ganz zu schweigen vom Käse, den ich als stinkend empfand. Ein schimmliger Geruch, der mir den Magen umdrehte, wie zum Beispiel der erlesene Gorgonzola oder der Camembert mit der weißen Haut, von denen ich wirklich fand, dass sie stanken. Die einzigen Käsesorten, die ich aus Marokko kannte, waren der Vachequirit und ein holländischer Käse mit roter Rinde. Natürlich standen bei uns Käse und Joghurt nur den reichen Menschen zur Verfügung und nicht so armen Menschen, wie ich einer war. Erst nach vielen Jahren gewöhnte ich mich an die Qualität der Käsesorten, die man in den Schweizer Supermärkten kaufen konnte. Das Einzige, was mir in der Schweiz sofort geschmeckt hatte, war die Schokolade. Ich aß eine Tafel pro Tag, anstelle einer normalen Mahlzeit. Auch das Obst in der Schweiz mochte ich nicht, es hatte nicht den Geschmack von Obst, das direkt auf dem Baum gereift ist. Wie die geschmackvollen Feigenkakteen oder die normalen Feigen, die wir reif direkt von der Pflanze ernteten und die so aromatisch und süß wie Honig waren, die einzigen Früchte, die bei uns auf dem Land wuchsen. Hier in der Schweiz bemerkte ich eine unglaubliche Auswahl an verschiedenen Speisen, Süßwaren ohne Ende, exotische Früchte, die ich noch nie gesehen hatte und Fruchtsäfte, die ich nicht einmal kannte. Trotz der Nahrung, die mir im Überfluss zur Verfügung stand, schmeckte mir nichts.
Ich hatte schnell gelernt, allein in die Stadt zu gehen, um die Einkäufe zu erledigen. Es gefiel mir, mich in den Supermärkten umzusehen, mit so vielen Waren, wie ich sie in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte und von denen ich nicht einmal wusste, wie man sie verwendete. Zu meinem Glück wurde man in den Supermärkten nicht bedient, wie es in den Lebensmittelgeschäften bei uns in Marokko der Fall war, wo ein Mann hinter der Theke stand, um zu fragen, was man benötigte. Ich hätte die Leute nicht verstanden und sie mich nicht. Hier bediente ich mich selbst, da ich aber nicht lesen konnte, nahm ich nur die Lebensmittel, die ich kannte oder mithilfe der Produktbilder auf der Dose oder der Verpackung erkennen konnte. Ich musste immer darauf achten, dass ich keine Tiernahrung kaufte.
Ich ging zur Kassiererin, grüßte sie und überreichte ihr ein Bündel Geldscheine. Ich gab immer viel zu viel, denn wenn es zu wenig gewesen wäre, hätte sie mich nach mehr gefragt und ich hätte sie nicht verstanden. Ich stand völlig stumm vor ihr und wartete, dass sie mir mein Restgeld gab. Das einzige Wort, das ich mehr oder weniger sagen konnte, war Gruezi, was auf Schweizerdeutsch »Hallo« bedeutete. Ich sagte jedoch immer Guzzi. Um ein bisschen Bewegung zu haben, ging ich zu Fuß zurück. Es gefiel mir, eine Straße namens Promenade entlangzugehen, mit einem wunderbaren Ausblick und einem Spielplatz in der Mitte. Die Promenade lag an einer erhöhten Stelle in der Stadt. Von dort aus hatte man eine wunderbare Sicht auf den schönen Fluss und auf einen Teil von Neuhausen. Nach meinen Abenteuern als Touristin kehrte ich glücklich und zufrieden nach Hause zurück.
Ich konnte nur marokkanisch kochen, doch glücklicherweise konnte Bilal auch sehr gut europäisch kochen und brachte mir viel bei. Den Rest lernte ich von meinen italienischen Freunden, die ich erst seit Kurzem kannte. So lernte ich bald Spaghetti Bolognese, Ravioli, Lasagne, Pizza, Minestrone, Rindfleisch-Ragout mit Kartoffelpüree und vieles mehr zuzubereiten. Doch wenn ich all diese Gaben Gottes am Tisch servierte, träumte ich mit offenen Augen vom Fladenbrot, frisch gebacken, aus der Terrakotta-Pfanne heraus, getränkt in Olivenöl und serviert mit gesüßtem Pfefferminztee. Das übliche Essen in meinem Dorf.
Ich verbrachte meine Tage allein, in absoluter Stille. Ich hörte nichts außer dem Brummen der Autos und der Züge. Keine Rufe der mobilen Straßenhändler, keine Schreie von Kindern, die draußen auf den Straßen spielten. Der Einzige, der regelmäßig und pünktlich bei mir vorbeikam, war der Briefträger, der die Briefe in den Briefkasten schob und wieder auf seinem Roller verschwand. In marokkanischen Städten hört man von morgens bis abends die Schreie der Verkäufer, das Jammern der Bettler, die um Mitleid baten, das Rufen von Kindern, die sich spielend auf den Straßen tummelten und die Nachbarn, die sich laut miteinander unterhielten.
Lesen und Schreiben
Ich hatte den sehnlichen Wunsch, die Leute zu verstehen und die Werbeplakate und Anzeigetafeln, die überall aushingen, lesen zu können: die Schilder am Eingang der Restaurants, Banken, der Post, der Läden und dergleichen. Und die Heftchen, die ich jeden Morgen im Briefkasten fand. In diesem Land nicht lesen und schreiben zu können, ist als wäre man blind, taub und stumm. Ständig benötigte ich besondere Unterstützung. Bis zu diesem Zeitpunkt war Bilal meine Hilfe, aber ich wusste, dass ich mich nicht mein ganzes Leben auf ihn verlassen konnte. Ich sprach mit Bilal über meinen Wunsch, doch er war nach der Arbeit immer müde. Er kam nach Hause, setzte sich aufs Sofa und schlief ein, nur um anschließend ins Bett zu gehen. Die Wochenenden verbrachten wir mit Freunden oder mit Miriam. So hatte er keine Zeit, mich zu unterrichten. Tobias, unser Nachbar, war zu dieser Zeit arbeitslos und erfuhr von meinem Wunsch, so bot er mir an, mir Deutschunterricht zu geben. Bilal nahm das Angebot an und kam, um mir davon zu berichten. Ich fühlte mich auf der einen Seite geehrt und war sehr glücklich, auf der andern Seite war ich verlegen. Ich fragte Bilal: »Ein Mann will mich unterrichten? Und wann möchte er das tun? Doch am Abend, wenn du zu Hause bist, oder?« »Nein. Er hat nur vormittags Zeit.« Ich war nicht daran gewöhnt, dass Männer und Frauen so offen miteinander umgingen. In meiner Kultur galt so etwas als schweres Vergehen. Ich wusste nicht, ob ich sein Angebot annehmen oder ablehnen sollte und gleichzeitig wollte ich mir diese Gelegenheit, endlich lesen und schreiben zu lernen, auf keinen Fall entgehen lassen. Am nächsten Morgen kam Tobias und nahm auf einem Stuhl in der Küche Platz. Er legte Hefte und Stifte auf den Tisch und wartete, bis ich mich im gegenüber niederließ. Ich stand mit dem Rücken zu ihm und machte den Abwasch und wagte nicht, mich umzudrehen und ihm ins Gesicht zu sehen. Ich schämte mich zu Tode, ich zitterte und schwitzte und spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Nachdem er einen Moment gewartet hatte, rief Tobias mich zu sich. Ich trocknete mir die Hände, während ich versuchte, mein Zittern zu verbergen und setzte mich vor ihn. Er war etwa 35 Jahre alt, hatte braunes Haar und trug einen Schnurrbart und einen mittellangen Backenbart. Ursprünglich stammte er aus Deutschland, daher sprach er ein Deutsch, das sich vom Schweizerdeutsch unterschied. Er lächelte mich an, nahm ein Weinglas und hob es hoch, dabei sagte er: »Das heißt: Weinglas.« Dann ermutigte er mich, seine Worte zu wiederholen. Dasselbe tat er mit anderen Gegenständen, während ich stotternd und zitternd vor Verlegenheit alles wiederholte. Dann begann er, die ersten Buchstaben aufzuschreiben und ermutigte mich, es ihm nachzutun. Aber ich konnte es nicht. Ich konnte den Stift nicht zwischen den Fingern halten. Nachdem er bemerkte, wie verwirrt ich war, unterbrach er den Unterricht. Vielleicht dachte er, ich wäre müde. Er nahm das Heft und verabschiedete sich mit einem Küsschen auf die Wange, was meine Verlegenheit noch verschlimmerte. Dann ging er. In der Tat begrüßten sich alle Freunde von Bilal mit einem Kuss auf die Wange, was für mich anfangs sehr schwer war. Meine Kultur erlaubte mir nicht, auch nur in Richtung eines Mannes zu blicken, geschweige denn, ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Am Abend bat ich