Im goldenen Käfig. Aicha Laoula. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Aicha Laoula
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783906287041
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hatte, dass seine Eltern mir nicht erlaubt hatten, meine Familie zu besuchen, dass ich sie in dem ganzen Jahr, in dem ich bei ihnen wohnte, nicht gesehen hatte. Außerdem erzählte ich ihm, dass seine Familie ihn betrog, um sein Geld zu bekommen, dass seine Eltern planten, das Haus, dass er ihnen gebaut hatte und die Grundstücke, die er gekauft hatte, auf den Namen seiner Brüder und Schwestern eintragen zu lassen, und nicht auf den seinen. Bilal vertraute seiner Familie blind und dachte, dass sie alles in seinem Namen eintragen lassen hatten, was er in Marokko gebaut hatte, doch so war es nicht. Bilal war schockiert und enttäuscht. Offensichtlich, so sagt er selbst, kannte er seine Familie nicht gut. »Jetzt sind sie aber zu weit gegangen!«, rief er aus. »Ich überlasse ihnen meine Frau und sie behandeln sie wie eine Sklavin? Bastarde! Haben sie vergessen, was ich ihnen alles Gutes tue? Hör zu, Aicha, ich werde ihnen das heimzahlen. Ich werde sie alle verprügeln und aufhören, ihnen Geld zu geben.« »Nein, ich bitte dich! Sag deiner Mutter nichts. Sie hat geschworen, mich umzubringen, wenn ich dir etwas erzähle. Vielleicht kennst du sie nicht, aber sie ist zu allem fähig.« »Ich hatte ständig ein seltsames Gefühl, hätte aber nicht gedacht, dass es so kommt. Ich glaubte, sie zu kennen, doch ich habe mich getäuscht. Seit meiner Jugend wohnte ich nicht mehr bei ihnen, da ich mein Zuhause früh verlassen habe. Ich kam ab und an zu Besuch oder wenn ich ihnen das Geld brachte, das ich verdient hatte. Doch jetzt ist mir alles klar und ich werde sie dafür bezahlen lassen, wenn du mich nicht davon abhalten würdest.« Doch wie ich Bilal kannte, hätte er sie alle verprügelt und am nächsten Tag hätte er sich wieder mit ihnen versöhnt. So hätte sich für mich nichts geändert, höchstens verschlechtert.

      Angesichts dessen, dass er vor Wut über seine Schwestern und seine Mutter kochte, dachte ich, es wäre besser, ihm nichts von den sexuellen Übergriffen zu erzählen, die ich durch seine Brüder erlebt hatte. Bilal hätte diese schwere Demütigung nicht ertragen. Ich hatte Angst, dass er sie schwer verprügeln würde. Außerdem schämte ich mich viel zu sehr, um darüber zu sprechen. Ich fühlte mich schmutzig und schuldig. Was mir am meisten Angst einjagte, war, dass Bilal mich hätte verstoßen können, weil mich sein Bruder vergewaltigt hatte und dass dies ein wirklicher Grund für ihn hätte sein können, sich von mir scheiden zu lassen, sobald wir in Marokko ankamen, und so hätte er mir meinen Sohn genommen. Zur damaligen Zeit war es bei uns üblich, dass der Vater das Sorgerecht für die Kinder hatte. Eine Frau ging aus einer Scheidung mit leeren Händen hervor, ohne Kinder und ohne finanzielle Unterstützung. Zum Glück änderten sich diese Dinge für die Frauen auch in Marokko zum Positiven. Von Gesetzes wegen ist es nun verboten, Minderjährige gegen ihren Willen zu verheiraten, doch ich musste leider feststellen, dass sich viele Eltern darüber hinwegsetzen, so wie es damals bei mir war. Wie bei mir wird das Geburtsdatum gefälscht oder das Mädchen gezwungen, vor dem Notar zu bestätigen, dass es heiraten will. Ich habe gehört, dass es in Casablanca sogar Auffangzentren für Mädchen gibt, die ein uneheliches Kind erwarten. Diese Mädchen werden oft aus der Familie und der Gesellschaft ausgestoßen, weil sie diese unverzeihliche Schande über die Familie gebracht haben. In diesen Zentren wird ihnen und ihren Kindern Unterstützung angeboten und sie haben die Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen, um finanziell unabhängig zu sein. Außerdem haben die Frauen jetzt von Gesetzes wegen nach einer Scheidung das Sorgerecht für ihre Kinder, haben Anspruch auf Unterhalt für die Kinder und auf die Hälfte dessen, was sie gemeinsam mit ihrem Ehemann besessen haben. Darüber hinaus verbietet das Gesetz dem Ehemann, seine Ehefrau zu schlagen. Doch wie aus einer Dokumentation im marokkanischen Fernsehen hervorging, halten sich nur wenige Männer an diese Gesetze. Die Frauen und ihre Familien werden auf schlimmste Weise bedroht, wenn die Frau auf ihre gesetzlichen Rechte besteht. Die Frau hat noch nicht all ihre Rechte in unserer Gesellschaft, die so stark von der Tradition beeinflusst wird, erobert. Vielleicht gelingt dies erst dann, wenn die älteren Generationen gemeinsam mit den alten frauenfeindlichen Konventionen sterben.

      Sobald Bilal seine Familie sah, umarmte und küsste er sie und schien alles vergessen zu haben, was ich über sie erzählt hatte. Er verhielt sich weiterhin, als wäre nichts geschehen. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass es nichts ändern würde, wenn ich es ihm erzählt hätte.

      Markus brachte mich in seinem Wohnmobil zu meiner Familie. Als er die Natur und die Ruhe meines Landes sah, das ihm sehr gefiel, entschied er sich, einige Tage zu bleiben. Als er wieder fahren wollte, funktionierte der Motor des Wohnmobils nicht mehr, so musste der arme Markus einige Wochen dort verbringen, bis ein Ersatzteil aus der Schweiz und eine Fachkraft ankamen und es einbauten.

      Dieses Mal machte ich Bilal deutlich, dass ich mehr Tage mit meiner Familie verbringen wollte, allerdings ohne dass mir seine Mutter und seine Schwestern hinterherschlichen. Auch er begleitete uns, schlief aber bei Markus im Wohnmobil mitten in der Landschaft. Dies demütigte mich und machte mich traurig. Ich hätte ihn gern bei meiner Familie gehabt, aber ich wusste auch, dass seine Mutter nicht zuließ, dass ihr Sohn bei meiner Familie blieb. Im Großen und Ganzen war ich sehr glücklich, Zeit mit meiner Familie zu verbringen und ihr endlich über mein Leben in der Schweiz erzählen zu können. Am Abend nach dem Essen saßen wir zusammen auf den Teppichen in einem Zimmer, während das schwache Licht einer Kerze, die auf dem kleinen runden Tisch in der Mitte stand, das Zimmer erhellte. Alle sahen mich voller Interesse an, während ich von meinem Leben in der Schweiz erzählte: vom Wetter, vom üppigen Gras und den reichen Ernten, und von dem majestätischen Fluss, der die Stadt durchzog, von den Leuten und ihren Sitten und von ihrer Art sich zu kleiden. Ich erzählte auch von Dingen, die meine Familie noch nie gesehen und von denen sie noch nie gehört hatte. Wie zum Beispiel von den Rolltreppen in den Geschäften, der Waschmaschine, der Spülmaschine, vom Staubsauger und anderen Dingen. »Was? Maschinen, die Kleidung und sogar Geschirr waschen?«, sagte Rabiha, und Fadma staunte mit offenem Mund und großen Augen. »Und was machen die Frauen den ganzen Tag, wenn diese Maschinen die Hausarbeit erledigen?«

      Ich erklärte, dass der Rhythmus des Lebens in Europa viel schneller und ganz anders als der unseres Dorfes war. Dass die Mehrheit der Frauen zur Arbeit ging, dass die Leute mehr materielle Dinge besaßen und daher auch mehr Bedürfnisse hatten. Die Leute verwendeten mehr Teller und Gläser und Bestecke beim Essen. Nicht wie wir auf dem Land, die mit der Hand von nur einem Teller aßen und alle Wasser aus derselben Tasse tranken, die aus Aluminium oder Terrakotta gemacht war. Außerdem berichtete ich, dass die Menschen in Europa mehr Kleider besaßen, täglich duschten und sich oft umzogen und sie daher Kleidung und Geschirr oft waschen mussten. Daher mussten sie Maschinen erfinden, die ihnen die Arbeit erleichterten. Des Weiteren mussten ihre Häuser geputzt werden, bis sie glänzten. Darum sind die Leute dort ständig unterwegs und haben weniger Zeit als wir auf dem Land.

      Sie hörten mir voller Interesse und Neugier zu. An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass sie versuchten, sich alles vor ihrem geistigen Auge vorzustellen, um es besser zu verstehen. Auch mein Stiefvater bombardierte mich mit Fragen zur Politik und zur Landwirtschaft. Er fragte mich, ob es in diesem Jahr in der Schweiz geregnet habe und ob die Leute bereits ihr Land gepflügt hätten, ob die Ernte im vergangenen Jahr gut gewesen sei und so weiter. Voller Erstaunen hörte er, dass es in der Schweiz das ganze Jahr über ausreichend Regen gab, sogar im Hochsommer. Dass der Sommer nicht so warm war wie der in Marokko. Dass das Getreide, vor allem der Mais, so hoch wuchs, wie ich groß war oder gar höher. Dass einige Früchte, wie Äpfel oder Birnen, reif von den Bäumen fielen und dass nicht einmal die Kühe Lust hatten, diese zu essen, da sie vom Gras im Überfluss satt waren. Ich erzählte, dass das ganze Land wie ein grüner Teppich war, von Frühlingsanfang bis zum Einbruch des Winters, dass das Land im Winter vollständig von Schnee bedeckt war und so weiter. Die ganze Familie war verblüfft, von diesem Land erzählt zu bekommen, dass für sie nach einem Paradies auf Erden klang.

      Zum ersten Mal hätte ich auch die Möglichkeit gehabt, die schrecklichen Dinge zu erzählen, die ich bei meinen Schwiegereltern während des Jahres, in dem ich bei ihnen leben musste, erlitten hatte, ohne die Vergewaltigung natürlich. Alles, was die Torturen betraf, die ich bei meinen ehemaligen Herrschaften in der Vergangenheit erlebt hatte, wusste ebenfalls keiner in meiner Familie. Es war zu schmerzhaft für mich, mit ihnen darüber zu reden, daher erzählte ich weder von dem einen noch von dem anderen. Es blieb mein Geheimnis, das ich viele Jahre mit mir herumtrug, bis ich endlich teilweise darüber sprechen konnte, doch niemals ganz. Nur dank des Schreibens kann diese Geschichte mein Herz verlassen, doch auch nur zum Teil.

      Meiner