Im goldenen Käfig. Aicha Laoula. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Aicha Laoula
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783906287041
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nach sind die Verletzungen, die durch diese schlimme Unterdrückung und den Rassenhass verursacht wurden, bis heute im kollektiven Gedächnis der Afrikaner auf dem gesamten afrikanischen und dem amerikanischen Kontinent vorhanden. Verletzungen, die durch das Brandzeichen der Sklaverei eingebrannt wurden und Jahrhunderte lang anhielten. Ich fühlte mich mit diesen Menschen sehr verbunden, da ich dasselbe Brandzeichen trug, das die Menschen gewaltsam unterteilt hat: in schwarz und weiß, arm und reich, adlig und sozial deklassiert. Doch dieses Zeichen wird nicht von Gott gesetzt, der alle auf die gleiche Weise geschaffen hat und alle auf die gleiche Weise liebt. Auch die schreckliche Misshandlung von Millionen von Menschen während des Zweiten Weltkriegs und der Kriege in Vietnam und Tibet, die ich nur aus Filmen und Büchern kannte, brachte mich zum Weinen und machte mich lange Zeit traurig. Ich konnte diese Geschichten nicht lesen, ohne mich in den Schmerz der Menschen hineinzuversetzen. Für mich war dies alles nicht einfach nur Geschichte, sondern ein Schmerz, der im kollektiven Gedächnis von Millionen von Menschen weiterlebt.

      Leider musste ich einsehen, dass in jedem Teil des Planeten Menschen leben, die sich im Laufe der Jahrhunderte wie wilde Bestien verhalten hatten, die ihre eigenen Interessen durch zerstörerische Kriege, Sklaverei oder die Unterdrückung anderer durchgesetzt haben. Ich entdeckte auch die Religionen und ihre politischen Vorteile. Sie haben oft ihre Macht ausgenutzt, um Seelen zu unterwerfen, anstatt sich um sie zu kümmern. So entdeckte ich, dass die Welt und ihre Geschichte nicht so gut waren, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Am Ende war ich mir nicht mehr sicher, ob es nicht besser gewesen wäre, in meiner kleinen ungebildeten Welt zu bleiben, anstatt weiterhin neue Welten zu entdecken, wie eine unerfahrene Abenteurerin, die sich in den gefährlichen Dschungel begibt. Doch meine Wissbegier sorgte dafür, dass ich nicht davon ablassen konnte, immer mehr zu erfahren, allerdings lernte ich, dass Wissen auch Schmerz mit sich brachte.

      Der Psychiater

      Seit unserem letzten Aufenthalt in Marokko war ein Jahr vergangen und der nächste Urlaub näherte sich. Der Gedanke daran, die Familie Bilals erneut zu treffen, jagte mir Angst ein, außerdem war ich in meiner Ehe sehr unglücklich, seit wir das letzte Mal in Marokko gewesen waren. Ich hatte das verzweifelte Verlangen danach, zu lieben und mich geliebt zu fühlen, doch meine Familie hatte mir dieses Recht genommen, indem sie einen Mann für mich ausgewählt hatte, der nicht für mich bestimmt war. So gab ich nicht Bilal die Schuld an meinem Unglück. Obwohl ich ihn lieber als Freund und nicht zum Ehemann gehabt hätte. Als ich Bilal fragte, ob er mich liebe, sagte er: Wenn er mich nicht lieben würde, wäre er nicht bei mir. Doch diese Antwort genügte mir nicht. Ich hatte das verzweifelte Verlangen danach, dass er mir seine Liebe unter Beweis stellte. Mich geliebt zu wissen – das hätte es mir vielleicht erträglich gemacht, nicht lieben zu können. Doch nicht einmal das wurde mir gewährt. Ich fühlte mich, als würde ich ertrinken, platzen und sterben. Ich konnte mir nicht vorstellen, mein ganzes Leben ohne Zärtlichkeiten und ohne die Nähe einer Person zu verbringen, von der ich mich geliebt wusste und die ich liebte. Diese Tatsache bescherte mir unbeschreibliches Leid, ein Leid, dass mich Tag für Tag auszehrte und das Jahrzehnte anhielt.

      Nachdem ich viel überlegt hatte, kam ich zu dem Entschluss, dass ich mich befreien müsste. So sprach ich mit Bilal und teilte ihm mit, dass ich mich scheiden lassen wollte, dass ich aber gern ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm beibehalten würde. Seine Antwort lautete: Wenn ich mich scheiden lassen wolle, würde er mich zum marokkanischen Konsulat in Bern bringen. Dort könne die Scheidung durchgeführt werden, wonach ich direkt nach Marokko zurückgeschickt werden würde, jedoch ohne Youns, der nach marokkanischem Recht in seiner Obhut bliebe. Er sagte, dass sich die Schweizer Behörden nicht einmischen würden, da wir ja in Marokko getraut worden waren. Ich kannte meine Rechte in der Schweiz noch nicht und so glaubte ich ihm. Eine schreckliche Angst überkam mich, davor, meinen Sohn zu verlieren und auch vor dem großen Skandal, den ich in meinem Land und unter meinem Volk auslösen würde, wenn ich meinen Mann verlassen und wieder zurückgeschickt werden würde. Diese Nachricht wäre für meine Mutter tödlich gewesen, eine fürchterliche Demütigung für meine Brüder aber auch eine große Freude für meine Schwiegermutter und deren Töchter. Bilal sagte oft, wenn wir uns stritten: »Vergiss nicht, was du mir alles zu verdanken hast. Du bist in der Schweiz und hast die Aufenthaltserlaubnis und wenn ich es will, schicke ich dich sofort nach Marokko zurück, doch ohne meinen Sohn Youns.« Diese Drohung ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, schlimmer noch als die Drohungen meiner Schwiegermutter. Ich fühlte mich immer bedroht, sowohl in Marokko als auch in der Schweiz, und ich fühlte mich, als lebte ich angekettet in einem Gefängnis. Ich sah keinen anderen Ausweg, als mich all dem zu unterwerfen und wurde schließlich sogar krank. Es blieb mir nichts anderes übrig, als alles zu akzeptieren, als wäre es normal. Ich musste meinem Mann ständig dafür dankbar sein, mich akzeptiert zu haben, wie ich war und mich in dieses Land gebracht zu haben. Trotz alledem hielt ich ihn immer für einen guten Menschen.

      Ich hatte keinen Appetit mehr und nahm sehr viel ab, war von Albträumen geplagt und schlief schlecht. Ich hatte Herzschmerzen und war ständig der Bewusstlosigkeit nahe. Bisweilen lief ich im Zickzack, als wäre ich benommen, und dennoch musste ich um halb fünf Uhr morgens aufstehen, um zur Arbeit zu gehen. Alle bemerkten, dass es mir nicht gut ging. Trotzdem lächelte ich immer und versuchte ein normales Leben führen, doch im Inneren fühlte ich mich wie eine Scheune, die Feuer gefangen hatte, und niemand holte die Feuerwehr. Während meiner Zeit als Sklavin war ich gezwungen gewesen, mich weder zu beschweren noch meine Schmerzen ernst zu nehmen.

      Erneut ging ich zu dem alten aber so sympathischen Arzt, mit ihm konnte ich italienisch sprechen. Nach einer Untersuchung und einem kurzen Gespräch sagte er mir, dass ich zu einem Psychiater müsse. »Um was zu tun? Ich bin doch nicht verrückt, oder, Doktor?« »Nein. Der Psychiater wird Ihnen Fragen stellen, um die Ursache für Ihr Unwohlsein herauszufinden.« Er sagte mir, dass der Psychiater Italienisch spräche und in einer psychiatrischen Klinik am Ort tätig sei. Das hat mir ja gerade noch gefehlt. Wenn er mich für verrückt hält, sperrt er mich in der Klinik ein, dachte ich. Zur damaligen Zeit sprachen die Leute schlecht über psychiatrische Kliniken oder Psychologen im Allgemeinen, man sagte, wer zu einem Psychologen ging, wäre nicht richtig im Kopf. In der Tat sagten einige meiner Freunde, denen ich blind vertraute und von denen ich dachte, sie wüssten alles besser als ich, ich solle nicht zu einem Psychiater gehen. Zu einem Psychiater oder einem Psychologen zu gehen, sei ein Zeichen für mangelndes Gottvertrauen, sagten sie. Natürlich war es nicht meine Absicht, Gott nicht zu vertrauen. Leider haben mir diese Freunde, nachdem ich doch entschieden hatte, zu einem Psychiater zu gehen, später gesagt, dass ich dem Psychiater nicht vertrauen und nicht alle Einzelheiten meines Lebens erzählen solle, und dass er einen negativen Einfluss auf meine Gesundheit hätte, anstatt mich zu heilen. Sie sagten, ich müsse einfach Gott vertrauen, dann würde ich schon gesund werden. Kein Mensch könne mich heilen, sondern nur Gott. Ich war hin- und hergerissen zwischen meinem Arzt, der bekräftigte, dass ich einen Psychiater brauchte, und meinen Freunden, die das Gegenteil behaupteten. Erst Jahre später verstand ich, dass ihre Mentalität nichts mit dem Gesetz Gottes zu tun hatte. Damals glaubte ich leider alles, was sie mir sagten. Ich hatte noch keine eigene Meinung entwickelt. Ich wollte jedoch auch meinen Arzt nicht enttäuschen, so ging ich zum Psychiater, dieser saß immer mit übereinander geschlagenen Beinen und dem Notizblock darauf vor mir, auf dem er notierte, was wir besprachen. Er achtete auf meine Bewegungen und Gesten, während ich sprach. »Nun, Frau Laoula, warum sind Sie zu mir gekommen?« »Weil mein Arzt es mir geraten hat.« »Aber wie glauben Sie, dass ich Ihnen helfen kann?« »Ich weiß es nicht. Sie sind der Arzt und sollten wissen, wie sie mir helfen können.« »Sie sind verheiratet, richtig?« »Ja.« »Leben Sie mit Ihrem Mann zusammen?« »Ja.« »Wie läuft es zwischen Ihnen?« »Normal.« »Was meinen Sie mit normal?« »Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich will damit sagen, normal eben.« Er sah mich an und stellte mir weitere Fragen, deren Sinn ich nicht verstand, das machte mich nervös und ich begann zu schwitzen. Als er mir Fragen zu meiner Kindheit stellte, verspürte ich einen Stich im Herz, als würde mir eine körperliche Verletzung zugefügt werden. Ich fühle mich schlecht und beendete dieses Thema sofort. Ich war nicht in der Lage, all den Schmerz hervorzuholen, den ich tief in mir begraben hatte. Im Augenblick beschäftigte mich viel Dringlicheres. Ich tat, wie mir meine Freunde geraten hatten. Ich sprach mit dem Psychiater über Gott und den Glauben und gab ihm nicht