Seltene Erde. Eva Raisig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Raisig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800631
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Sie hielt ihrer Mutter zum Beweis die Hände hin, die etwas von keinen Aufstand machen murmelte und dann deutlicher sagte: Mäuschen, du wirst es schon schaffen.

      Ich kann nicht. Ich glaub, ich muss kotzen.

      Dich erbrechen, sagte die Mutter.

      Erbrechen, sagte Therese. Jetzt. Und kotzte über den Geigenkoffer hinweg vor den Saal mit den Flötenspielern.

      Sie dreht die Zigarette sorgfältiger als notwendig. Die Sonne steht tief und hat doch noch Kraft. Die Angler als Silhouetten vor Hafenkulisse. Therese erzählt von dem Riesenrad, der Odyssee bis hierher, den Nachwirkungen der letzten Nacht und auch wenn Lenka eher spärlich antwortet, kommen sie über die zweite Zigarette doch nach und nach ins Gespräch. Therese hat kein Problem damit, ihrem Gegenüber die Informationen einzeln zu entlocken, eine nach der anderen, ganz vorsichtig und zugewandt, zumindest die groben Eckdaten. Wohnort, Arbeit, das Übliche. Am Ende lässt sich zusammenfassen, dass die Frau, die da neben ihr auf der Bank sitzt, Physikerin ist, wegen einer Konferenz nach Russland gereist, quasi auf Heimatbesuch, weil vor dreißig Jahren von hier aus nach Deutschland ausgewandert, und sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit dem letzten Faktor einer Gleichung beschäftigt, mit der sich die Zahl intelligenter Zivilisationen in der Galaxis abschätzen lassen soll.

      ?

      Ja, gerade habe sie im St. Petersburger Kongresscenter einen Vortrag zur Frage der Lebensdauer technologischer Zivilisationen gehalten.

      Was heißt das?

      Es geht darum einzuschätzen, wie lange es braucht, bis eine Zivilisation wie etwa die Menschheit untergeht.

      Wie etwa die Menschheit?

      Wir arbeiten mit der Annahme, dass es möglicherweise noch viele andere Zivilisationen da draußen gibt, mit wahrscheinlich ähnlichen Problemen, Überbevölkerung, Mehrfachvernichtungskapazität, Umweltkatastrophen, Viruspandemien undsoweiterundsofort. Man muss sich also fragen, wie lange eine Zivilisation überlebt und ob technologischer Fortschritt ab einem gewissen Grad nicht zwangsläufig dazu führt, dass sich eine Zivilisation selbst zerstört. Das ist wichtig, wenn es darum geht, mit einer dieser anderen Zivilisationen in Kontakt treten zu können. Vielleicht überlappt sich unsere gemeinsame Lebenszeit einfach niemals. Wahrscheinlich ist das sogar so. Wir haben nur ein paar Tausend gute Jahre, in denen wir potenziell kommunizieren können, und das war’s. Vergleich das mal mit dem Alter des Universums.

      Therese besieht sich die Hinterköpfe der Angler und macht ein unbestimmtes Geräusch. Die Suche müsste viel gezielter betrieben werden, sagt Lenka. Früher haben sie das zumindest noch versucht. Sie haben Radiobotschaften ins All geschickt und mit den wenigen Mitteln, die sie hatten, den Himmel abgehorcht. Und diese Raumsonden mit irgendwelchen Plaketten und vergoldeten Schallplatten an Bord – gut: Die waren natürlich eher eine Botschaft für die Menschen als für andere Welten. Aber immer verknüpft mit dieser Hoffnung, dass irgendwer sich an uns erinnert.

      Sollte Thereses Ratlosigkeit über den Verlauf des Gesprächs sichtbar sein, lässt sich Lenka davon zumindest nicht aus der Ruhe bringen. Sie sagt: Selbst wenn noch jemand übrig sein sollte hier auf der Erde, um die Antwort auf eine dieser Botschaften zu empfangen, können wir nicht davon ausgehen, dass noch irgendwer weiß, was wir da Tausende Generationen vorher losgeschickt haben. Schon in zehntausend Jahren ist wahrscheinlich von keiner heutigen Sprache mehr der kleinste Rest übrig, der Auskunft über die Vergangenheit geben könnte. Oder über irgendeine Form von Erinnerung, die wir uns erhoffen. Man wird uns vergessen, sagt Lenka. Wie wir einander auch immerzu vergessen.

      Therese fällt nicht einmal ein Einwand ein. Sie sagt deshalb nur: Okay. Und was genau ist jetzt dein Job?

      Ich habe versucht, Szenarien zu entwickeln, wie lange man im besten Fall durchhalten kann. Aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es ab einem gewissen Punkt immer darauf hinausläuft, sich zugrunde zu richten. Man müsste schon sehr weitsichtig sein, um die Gefahren und Möglichkeiten einer fernen Zukunft zu erkennen. Das sind wir nicht. Oder wir handeln nicht danach. Wir schaffen es ja nicht einmal, paar Jahrzehnte über uns und unser eigenes Leben hinauszublicken, der Klimawandel ist nur ein Beispiel. Aber das Problem bei dieser Art der Forschung ist, dass wir unser einziger Datenpunkt sind. Wir haben einfach keinen Vergleich. Wir kennen ja nur die Erde und uns als einzige Zivilisation. Und die Menschheit erweckt mir nun nicht gerade den Eindruck, als würde sie es durch die nächsten Jahrtausende schaffen. Oder? Schau sie dir doch an. Sie macht eine vage Handbewegung. Die Frau auf der Klappliege hat sich umgebettet, liegt nun auf dem Rücken, die Handflächen gen Himmel gedreht.

      Das wahrscheinlichste Szenario ist: Die Welt wird vergehen und nichts wird bleiben.

      Therese lächelt. Warum gefällt ihr das jetzt so.

      Später fahren sie gemeinsam zurück in die Stadt. Auf dem Rückweg vom Kai, an der Bude bei der Bushaltestelle, werden sie gleich als Fremde erkannt. Ah Berlin! ruft die Alte hinter der Theke. Deutschland, sagt sie, sagt dann: Muttervatergroßmuttergroßvaterbitteschöngutentagaufwiedersehen, sieht Therese an, zeigt auf Lenka, fragt: Mama? Sie weiß vermutlich, dass das nicht stimmt. Njet, sagt Therese ziemlich laut, na bitte, die Reflexe funktionieren schon auf Russisch, aber warum ist sie überhaupt so empört. Dagegen Lenka: Lässt den Blick über die etwas erbärmliche Auslage schweifen, gräuliche Würstchen in Öl und schrumpelige Paprika, und sagt, ohne die Alte anzusehen, sehr ruhig und bestimmt und auf Deutsch: alte Freunde. Die Frau schaut sie lange an: Mit denen stimmt doch was nicht. Reicht dann Käseplini und Salat Vitamini über die Theke, wie bestellt. Wie alt bist du denn, fragt Lenka, als sie auf den Bus warten, und dann lacht sie und sagt: so jung. Genau doppelt so alt wie Therese ist Lenka. Das passiert in ihrer Konstellation genau einmal. Aber was heißt das schon.

      Es gibt da dieses Fest, sagt Lenka über ihre Schulter hinweg, als sie in den Bus steigen. Ein Stadtfest. Am Samstag. Ein Kollege habe ihr zwischen zwei Vorträgen davon erzählt. Vom Kongressgebäude aus sei es gut und gerne in zwei Stunden zu erreichen, aber für solche Sperenzchen, habe der Kollege gesagt, bleibe wahrscheinlich keine Zeit, oder?

      Vielleicht sollte das eine Einladung sein, sagt Therese.

      Lenka zieht wieder den einen Mundwinkel hoch: Dann muss ich sie wohl überhört haben. Jedenfalls: Vielleicht fahre ich da hin.

      Therese wartet, ob noch etwas kommt.

      Hättest du Interesse? fragt Lenka beiläufig und etwas distanziert.

      Warum denn nicht, sagt Therese. Ist ja nicht so, dass sie hier besondere Verpflichtungen hätte.

       Faustkampf.

      Lenka dagegen hat Verpflichtungen, sich diesen aber vorerst entzogen. Oder wurde freigestellt. Wobei das Furcht einflößender klingt, als es soll, man ist hier schließlich nicht in der freien Wirtschaft, sondern auf einer internationalen Fachtagung für Astrophysik und Astrobiologie, will sagen: Es wird hier niemand rausgeschmissen, nur weil er vor den Augen der versammelten akademischen Würdenträger des Fachs seine Emotionen nicht unter Kontrolle hat.

      Lenkas Vortrag zur Modifikation des Faktors L* der Lebensdauer technologischer Zivilisationen bei Inklusion der Hypothese einer nichtorganischen Gestalt extraterrestrischer Intelligenzen war schon Monate vorher abgemacht und gerade erfolgreich präsentiert worden, die Anfrage zu der unglückseligen Podiumsdiskussion fiel ihr dagegen erst Stunden vor Veranstaltungsbeginn in den Schoß. Ein Kollege hatte kurzfristig abgesagt, irgendeine unschöne Magen-Darm-Geschichte, aber seien interstellare Botschaften im weitesten Sinn nicht auch Teil ihres Forschungsgebiets? Mit etwas mehr Bedenkzeit hätte sich Lenka gegen diese Veranstaltung entschieden und einen Weg gefunden, ebenso bestimmt wie höflich abzusagen, so aber sah sie sich im Auditorium II des Kongresszentrums von St. Petersburg wieder, zwischen den quietschenden Polstern einer ausladenden Bühnenbestuhlung in den Landesfarben. Lenka im roten, neben ihr die Moderatorin im weißen Sessel, der ukrainische Professor in seinem karierten Dreiteiler auf strahlendblauem Kunstleder.

      Stellen Sie sich vor, Sie könnten eine Nachricht an E. T. verfassen, sagte die Moderatorin, laut Faltblatt Postdoc der Exobiologie an einer großen