Die überdachte Einkaufsstraße beginnt wenige Schritte hinter dem Busbahnhof. Neben der schweigenden Lenka kreuzte Therese am ersten Tag ihres Aufenthalts durch den Ort. Heruntergekommene Ladenlokale, Cafés. Gehwege, nur durch ein paar Zentimeter vom Straßenniveau getrennt. Alles aus festgetretener Erde, über die der Staub weht. Sie versuchte es mehrmals, sagte: Schau mal da, hast du das gesehen, weißt du, was echt witzig ist? Erzählte von ihrer Anreise. Der Bingopartie im Reisebus, einer Landschaft voller Rinder im Sonnenuntergang. Wenn dann immer noch nichts kommt, hält man irgendwann den Mund, kein Problem. Aber wundern darf man sich schon. Dabei erkannte sie vieles von ihren paar gemeinsamen Tagen in Russland wieder. Das Schweigen. Dieses mickrige Essverhalten. Die krummen Zigaretten. War doch klar, dass das nicht plötzlich weg ist. Menschen ändern sich nicht.
Im Hinterland des Dorflebens stehen niedrige helle Häuser mit gepflegten Vorgärten und zwischen den niedrigen Häusern ebenso niedrige Bäume. An den Strommasten hoch über den Gartenzäunen knäulen sich die Leitungen. An beinah jeder Straßenecke weist ein Schild den Weg zum Busbahnhof. Als wollten hier alle schnellstmöglich weg. Dazwischen: Katzen, viele Hunde. Die einen rund um die Blumenkästen auf der Promenade, auf den Motorhauben und Fensterbänken dösend. Die anderen zwischen den Plastikstühlen und in Gruppen vor der Bankfiliale oder auf dem Vorplatz des Busbahnhofs. Alle haben ihren Platz. Hier im Dorf werden die Katzen nicht ertränkt, nicht mit noch blinden Augen an die Stallwand geschleudert. Wer hier im Fluss spielt, dem treibt es keine winzigen gefleckten Körper mit aufgeblähten Bäuchen zwischen die nackten Beine. Dem klebt keine hauchdünne Nabelschnur an Schienbein oder Wade, wie damals im Österreichurlaub. So ist die Welt, hatte Thereses Mutter von der Restaurantterrasse aus zu ihrer im Bach stehenden Tochter gesagt, während Therese den kleinen Körper auf und nieder wippen sah im flachen Wasser, auf seinem Weg stromabwärts an die Wackersteine trudelnd.
Aber hier im Dorf haben sie alle ihren Platz. Den Hunden begegnet man meist in mehr oder weniger großen Horden. In der Mittagszeit wird es ihnen offenbar zu warm, dann verziehen sie sich in den Schatten hinter den Zäunen. Einer öffnet mit einem gezielten Sprung auf die Türklinke eine Gartenpforte. An dieser Stelle sagte Lenka nun doch etwas. In ihrer Kindheit in Moskau seien die Straßenhunde mit der U-Bahn von den Außenbezirken in die Innenstadt gefahren. Morgens hin, dort den Tag verbracht, bisschen durch die Straßen streunen oder was man halt so tut, und dann abends wieder zurück. Selbst Feiertage haben sie beachtet, sagte sie.
Ja klar.
Ich schwöre dir, genau so war es. Sie lächelte. Und abends hatten sie erschöpfte Blicke wie alle Pendler.
Auch als Therese und Lenka von der Brücke zurück ins Dorf kommen und sich auf den Stufen vor dem Gemeindesaal niederlassen, werden sie gleich von einem hechelnden Rudel umringt. Manche werden von den Dorfbewohnern im Vorbeigehen begrüßt. Hola Chaco, und Chaco wedelt beiläufig. Therese nutzt das freie WLAN des Gemeindesaals und schickt den blassen Azarcumbre, dann ein Bild der Pfefferbäume in den Familienchat. Fast augenblicklich kommt ein Schneemannhäufchen von der elterlichen Terrasse als Antwort. Wie nett, dass du dich auch mal wieder meldest.
Chaco legt sein Kinn auf die unterste Stufe und lässt sich von Therese die Stirn kraulen. Hinter den rastenden Hundekörpern erstreckt sich ein asphaltiertes Niemandsland mit Abfalleimern, dahinter beginnt die Promenade. In den Geschäften bleichen die Auslagen aus, einäugige Teddybären, Ufo-Mützen, der blasse Alien-Aufdruck auf der Limonade ist kaum noch zu erkennen. Eingestaubte Lampions schwingen sacht im Latinopop der Pizzeria am Eingang der Einkaufsstraße. Schummerlicht. Ein Kellner versucht, die wenigen verbliebenen Touristen mit einer riesigen Speisekarte in die Plastiksitzgruppe unter dem Strohdach zu drängen, ein paar Mal hat er Glück. Vor den Lokalen stehen Ladenbesitzer und unterhalten sich. Einer rückt einen Plakataufsteller zurecht, der Nachtwanderungen zum Azarcumbre bewirbt. Er schaut dabei in ihre Richtung. Eine Weile sitzen sie, ohne etwas zu sagen, dann schreckt Chaco zu ihren Füßen hoch. Er stellt die Ohren auf. Aber es ist nur Nieselregen. Chaco drückt den Rücken durch. Eben war es doch noch hell. Er trottet Richtung Promenadenüberdachung und hinterlässt auf dem feuchten Asphalt einen hellen Fleck.
Therese dreht sich noch einmal um zum Azarcumbre. Ein Schatten hängt über dem Berg, die verbrannte Flanke erscheint noch dunkler. Therese hat immer noch Hunger. Dieses Dorf, sagt sie. Ich weiß ja nicht.
Lenka steht auf und streckt sich. Ich weiß es auch nicht. Aber von allen Orten erscheint mir der hier am wahrscheinlichsten.
Russland, vorher.
Lenka hatte den Tipp, dass es hier etwas zu holen geben könnte, von einem Historiker in Sibirien, und der hatte irgendwo mal was darüber gelesen. So erzählte sie es zumindest Therese. Ein Abstecher von knapp viertausend Kilometern brachte sie von ihrer Konferenz in St. Petersburg in das Naturkundemuseum von Krasnojarsk und als sie dort mit dem Historiker vor der Vitrine mit den Meteoritenresten stand, zog er einige der beschrifteten Holzschubladen unter dem Glaskasten heraus, legte Lenka einen pflaumengroßen Meteoritensplitter auf die Handfläche und erzählte ihr von jenem Ort in Südamerika, den er für aussichtsreicher hielt als diese Gefilde. Vermutlich erschien ihm alles aussichtsreicher als die sibirische Tundra.
Lecken Sie mal dran. Er deutete auf den Meteoritensplitter. Sie zögerte nicht einmal. Nicht nur mit der Zungenspitze, sondern einmal ordentlich von einem Ende bis zum anderen. Ein metallischer Geschmack, vertraut auf eine Weise, etwas aus der Kindheit vielleicht, und gleichzeitig sehr fremd, aber auch an irdischen Steinen leckt man selten. Später knirschte es zwischen den Zähnen.
Alles lang her, sagte der Historiker und betrachtete die Meteoritenbrocken in der Vitrine, als hätten sie etwas mit Lenkas Anliegen zu tun. Alles lang her und auch in den Archiven ist nur das Bemühen dokumentiert, kein Kontakt. Es sei nicht einmal mehr zu sagen, wer ursprünglich die Idee gehabt habe, die Intelligenz außerirdischer Zivilisationen an einem Fundamentalsatz der euklidischen Geometrie festmachen zu wollen oder als wesentliches Merkmal der Menschen und als Botschaft fürs All ausgerechnet den Satz des Pythagoras mit Abertausenden von Steckrüben auf die Erde zu pflanzen. Hier sind wir, sollte das heißen. Hier sind wir und wir sind intelligent. Aquadratplusbequadratgleichcequadrat in strahlendem Steckrübengelb. Und zugegeben, sagte der Historiker, die Idee war ja nicht schlecht. Nur, wo macht man das, in der Größe? Er wartete einen Moment, dann breitete er die Arme aus, vollführte eine Vierteldrehung mit dem Oberkörper und zurück: Voilà, sagte er mit russischem Akzent. Jemand sei von einer Forschungsreise zurückgekommen, die einen völlig anderen Gegenstand gehabt habe, sei über den Ural zurück nach Europa gereist, habe zufällig von der Suche nach einem geeigneten Ort für eine kosmische Botschaft gehört und feierlich gesagt: Freunde: Sibirien. Mutmaßlich erstaunte Mienen. Später habe der Reisende aufgeklärt: Riesige Flächen habe er dort drüben gesehen. Karge Landschaft. Wie lange haben die Extraterrestler auf farblose Tundra geblickt aus ihren fremden Welten. Da fällt es auf, wenn es plötzlich blütengelb in den Himmel leuchtet. Gut, man muss eingestehen, dass es wirklich sehr groß sein müsste, um aus solch einer Entfernung noch sichtbar zu sein. Gigantisch geradezu. Allein die Menge an Steckrübenpflanzen, man stelle sich das vor. Was kostet das. Wer beaufsichtigt das. Und am Ende, sagte der Historiker, sind die ganzen schönen Überlegungen in Vergessenheit geraten, aber wer will es ihnen verübeln? Es gibt auf der Welt wahrlich andere Probleme, als Kontakt mit dem kosmischen Nachbarn aufzunehmen, oder nicht?
Kurz darauf war Lenka zurück nach St. Petersburg geflogen, um auf der Konferenz ihren Vortrag zu halten, und kaum einen Tag später hatte sie auf der Bank am Finnischen Meerbusen auf russischer Seite gesessen. Therese drehte sich um, und da war sie. Sie rauchten eine Zigarette, und Lenka erzählte von ihrer Suche. Von der Frage, ob die Erde selten sei und intelligentes Leben ein rares Phänomen im Universum. Von den Außerirdischen und von diesem Ort. Kurz schien so etwas wie ein Ausweg auf: Man erzählt dir am westlichen Ende Russlands von der Suche nach einer anderen Welt und für ein paar gemeinsame Tage rücken Berlin und der Rest in wohltuende Ferne. Doch kaum zurück in Deutschland, war alles wieder da. Bis Therese Lenka Monate später an einem Busbahnhof in Argentinien wiedertreffen würde, zogen sich die Dinge zunächst zäh und schmerzlich in die Länge. Die Großmutter