Seltene Erde. Eva Raisig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Raisig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800631
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aufregende Teil des Abends. Später, gerade als Therese überlegte, ob der lange Felix eine Option für die Nacht wäre, wurde er weinerlich, der kleine Blonde anhänglich. Mit tief hängenden Lidern sinnierte er über das Leben, die Liebe, Gott und die Welt, sagte er und patschte seine klebrige Hand auf Thereses Unterarm, die andere landete auf der Schulter des Langen. Dazu musste er sich strecken. Wodka! rief der Blonde in seiner Schieflage hängend über den Tresen. Therese zog ihren Arm weg. Mit einem Ziepen lösten sich seine Finger von den Unterarmhärchen. Sie half mit einem Ruck nach und brachte sich, schummerig wie ihr war, dabei selbst zum Schwanken. Vom Barhocker aus ließ sich der Fuß nicht auf den Boden stellen, also hielt sie sich am Tresen fest und versuchte, irgendwer hatte ihr das mal empfohlen, einen Punkt in der Ferne zu fixieren. Hier: eine mit langhaarigem pinkfarbenem Plüsch bezogene Wand. Dabei das nicht zu unterdrückende Gefühl, auf einer Schiffschaukel zu sitzen. Alle Gedärme hingen einen Moment in der Luft, dann sackten sie zurück. Therese schluckte Flüssigkeit. Schluckte noch einmal. Und dann: noch einmal. Als es sich nicht mehr vermeiden ließ, kletterte sie vom Barhocker und wankte zum Klo, schaffte es aber nur bis in den Vorraum mit den Pissoirs. Während sie Pelmeni hervorwürgte, versuchte sie, trotz der tränenden Augen das Fadenkreuz zu treffen, das in den Spritzschutz im Keramikbecken gedruckt war. Danach hatte sie den Eindruck, es ginge ihr besser. Sie machte sich auf den Weg zurück zur Bar und warf dabei einen Blick in den Darkroom, das schwarze Rechteck am Ende des Gangs. Ein einziger Typ stand dort in der Ecke mit nacktem, soweit es sich sehen ließ, magerem Oberkörper, der Gürtel hielt die Hose irgendwo über dem Nabel, unten warf sie Wellen. Er starrte auf den winzigen, flimmernden Bildschirm an der Wand, der für wahrscheinlich jeden Besucher des Darkrooms etwas zu niedrig hing. Kaum hörbares, blechernes Klatschen und Stöhnen. Der Typ machte einen Schritt auf den Bildschirm zu und krümmte den Rücken, um etwas erkennen zu können. Therese blieb einen Moment in der Tür stehen, leckte sich über den salzigen Handrücken. Dann ließ sie die beiden Felixe an der Bar zurück und machte sich auf den Weg zur Wohnung der Gastmutter. Schlangenlinien auf feuchtem Asphalt. Das war der Anfang des neuen Lebensjahres.

       Am Finnischen Meerbusen auf russischer Seite.

      Das Aufwachen dann auch ein Elend. Abgestanden und pelzig und irgendwie übel. Duschen. Sich abermals erbrechen. In der Welt zurechtkommen. Dann die Luftballons. Als sie aus dem Bad kommt, gerade hört sie hinter der Gastmutter noch die Wohnungstür ins Schloss fallen, ist der Teppichboden in dem Erkerzimmer voll davon. Поздравляю steht mit Filzstift auf einem länglichen Grünen. Sie buchstabiert sich das Wort vor: Alles Gute, herzlichen Glückwunsch, hoch sollst du leben, was soll es schon heißen. Sie schlägt es nicht nach. Zählt die Luftballons durch, dreiundzwanzig, und empfindet etwas. Womöglich ist es Rührung. Über die Gastmutter, kaum älter als sie selbst, die auf welchem Weg auch immer von ihrem Geburtstag erfahren hat und dreiundzwanzig Luftballons aufbläst, bevor sie aus dem Haus stöckelt.

      Als Therese in die Küche kommt, schreien in der Wohnung oben wieder die Hunde. Pünktlich morgens und abends um neun. Sie weiß jetzt, dass sie zu spät ist. Vier Anrufe in Abwesenheit. Mutter. Zwei neue Nachrichten.

      Eins: Hast du dein Handy aus? Lass uns nachher mal telefonieren. Du meldest dich, ja?

      Zwei: Happy Birthday, Mäuschen!

      Von der Großmutter nichts, aber damit war auch nicht zu rechnen. Sie schaltet das Handy aus. Auf der Anrichte steht der Topf mit Kascha, daneben die Teekanne, Kandis und zwei Scheiben Zitrone. Ihr wird wieder schlecht. Fett und Salz will ihr Körper, nur keine Zitrone und keine Milchprodukte jetzt. Sie nimmt sich etwas Weißbrot und verlässt das Haus. Pflichtbewusst meldet sie sich in der Sprachschule ab, von den Felixen keine Spur. Die Lehrerin gratuliert zum Geburtstag und zeigt Verständnis für einen Ausflug an diesem besonderen Tag. Экскурсия schreibt sie an die Tafel, eine kleine Lektion soll ihre Schülerin doch noch haben, und Therese liest vor: Ekskursiya.

      Haroscho, sagt die Lehrerin, und gute Reise: счастлimageвого путimage.

      Das ist kaum zu schaffen in dem Zustand.

      Schast-li-vo-go pu-tí.

      Sie versucht es noch einmal, aber nichts zu machen. Nur noch ein Paka und dann los.

      Wohin an so einem Tag? Der Name Finnischer Meerbusen gefiel. Als würde sie gleichzeitig noch ein anderes Land bereisen. In Russland hält sie so wenig wie an jedem anderen Ort. Zunächst findet sie jenen Finnischen Meerbusen allerdings nicht und irrt durch einen ausgestorbenen Industrievorort. Überall wird gebaut. Das heißt, genau genommen sind nur überall Baustellen, keine Bauarbeiter. Als wäre sie völlig allein auf der Welt. Das kann auch angenehm sein. Aber etwas Zivilisation ist da doch. Ein Riesenrad, das neben einer Baumgruppe steht, ist in Betrieb, es gibt sogar noch zwei weitere Fahrgäste, Oma und Enkel. Halb betrunken eine Runde Riesenrad auf der Suche nach einem Gewässer, das hier irgendwo sein muss, aber sofort wieder der Schwindel, die Spucke im Mund, viel mehr als nötig, da ist die Gondel erst ein paar Meter in der Luft. Therese blickt hinunter auf die Betonplatten, aber das macht es nicht besser. Diese elende Anspannung loswerden. Nicht mehr darüber nachdenken müssen, wie es wäre, wenn ihr Körper da unten auf den Beton knallt.

      Tiefenpsychologisch betrachtet, das hatte ihr einer der Klugscheißer im ersten Studiengang in der Mensa erklärt, sei Höhenangst nicht mehr als die innere Unfähigkeit, sich fallen zu lassen. Dabei hatte er aus einem Tablett mit eingelassenen Vertiefungen unterschiedlicher Form verkochte Salzkartoffeln und Erbsen in sich hineingelöffelt. Aber was heißt denn nicht mehr? Was heißt denn da fallen lassen? Und was bitte sehr sollte denn fallen gelassen werden? Die Vorstellung, es könnte alles gut werden? Die Idee eines gelingenden Lebens? Ist nicht jeder Halt besser als der freie Fall? Kurz darauf hatte sie das erste Studium aufgegeben, eine Ausbildung begonnen, sie abgebrochen und ein weiteres Studium angefangen. Einige Semester ging es gut im Sinne von: Sie war ordentlich eingeschrieben und konnte ohne allzu viel Aufwand einen gewissen Schein aufrechterhalten, bis sie sich in eine so sommerliche wie anstrengende love affair hineinsteigerte, und auch wenn klar war, dass es dabei eher um Langeweile als um Leidenschaft ging, reichten die Ausläufer dieses wochenlangen Schauspiels, um Therese endgültig von den Zwischenprüfungen abzuhalten. Einwurf: Sie hatte die nötigen Voraussetzungen schon während des Semesters nicht erfüllt. Als hielte sie etwas ab. Nun, so war es am Ende auch. Was lange Vermutung war, schälte sich zur Erkenntnis: Ich kann das nicht. Das geht nicht. Das geht einfach nicht.

      Eine schöne junge Medizinerin, die den Hausarzt in den Ferien vertrat, sagte ihr, man könne es eine Zeit lang mit einem leichten Antidepressivum versuchen, aber ohne eine begleitende Therapie sei das nicht sinnvoll. Sie könne ihr jemanden empfehlen, Therese solle darüber nachdenken. Auch die Schlaflosigkeit sei womöglich ein Symptom. Bevor die Dinge den Gang gingen, den die Ärztin im Kopf hatte, kam der Hausarzt gut gelaunt aus dem Urlaub zurück, die schöne Ärztin verschwand in irgendeiner Klinik und mit ihr der Gedanke, es könnte wieder anders werden.

      Was also stattdessen? Ablenken. Rausrennen und nach Zerstreuung suchen. Die aufdringliche Seele eine Weile auf Abstand halten. Dabei kann die Ablenkung eine mehrtägige Technoparty sein oder eine zeitfressende, wahlweise nervenaufreibende andere Tätigkeit, sogar Lohnarbeit bietet sich unter bestimmten Voraussetzungen an. In diesem Fall unbezahlt und bis der Sprachkurs begann: ein dreimonatiges Praktikum in einer Fotoagentur.

      In einer Fotoagentur? Sind wir jetzt unter die Künstler gegangen, ja? fragte der Vater.

      Dabei bekam sie von der sogenannten Kunst wenig mit. Sie organisierte Materialien, Veranstaltungen, Models und suchte aus unendlichen Datenbanken passende Versatzstücke für Werbeflyer aus. Das alles nicht nur fünf Werktage, sondern meist auch die Wochenenden hindurch.

      Hast du ein Zeugnis bekommen?

      Nein, ich mach das für mich, nicht für den Lebenslauf.

      Der Vater sah sie an, als wäre sie nun endgültig irre geworden. Aber an etwas gedacht hatte sie in dieser Zeit kaum,