Endlich wieder unten, schwankt sie in die Richtung, in der sie das Wasser gesehen hat, und gerät dabei immer wieder in zarte Wolken ihres eigenen Schweißes. Zwiebeln mit Restalkohol. Sie kramt nach ihrem Tabak. Alles ist in der Nacht feucht geworden und den letzten Filter hat sie einem der Felixe gegeben. Ohnehin spürt sie ihre Lunge bei jedem Atemzug. Vielleicht sollte sie an dieser Stelle aufhören zu rauchen. Aber jetzt erst einmal: weiter. Weiter. Durch das Kiefernwäldchen, über eine Brache und dann, endlich, an eine verlassene Kartbahn angrenzend: der Kai. Freier Blick, wüst, gleißend. An der Kante zum Wasser hin hocken zwei Angler auf brüchigem Beton. Einer neben einem Haufen Metallschrott, einer vor einer Leiter, die ins Wasser führt. Schräg hinter dem an der Leiter liegt eine in blauer Arktisdaunenjacke auf einer Klappliege mit der Kapuze über dem Kopf. Sie hat die Beine übereinandergeschlagen und den Ellbogen aufgestützt. Die wenige Haut, die zu sehen ist, die Hände, kurz das Gesicht, als sie nach Therese schaut, ist dunkelbraunfaltig wie von vielen Sommern am Kai. Vor ihr auf dem Boden, auf Kopfhöhe, steht ein kleines, sehr lautes Radio mit unverhältnismäßig langer Antenne. Alle paar Minuten dreht sich ihr angelnder Mann um, wilde Augenbrauen über wilden Augen, und schüttelt den Kopf: Immer noch nichts.
Es ist nun wirklich nicht so, dass sie sich mit Angeln auskennen würde, aber sollte man nicht das Radio …?
In einer Lautstärke, die wohl die daunenverdeckten Ohren erreichen soll. Noch hinten bei Therese verzerrtes Geplärre und aufgeregte russische Stimmen, zu schnell für sie, nur die Zahlen erkennt sie, oder sind das Wochentage, und sie stellt sich vor, dass gerade einer den Jackpot –
Und der andere Angler blickt neben seinem Schrott in die Kräne am anderen Ufer und auf den Kai gegenüber, wo alles langsam einrostet und die Gesichtsfarbe der Frau in der Arktisdaunenjacke annehmen wird, während sie wahrscheinlich alle warten, dass endlich mal ein Fisch anbeißt nach all den Jahren am Finnischen Meerbusen auf russischer Seite, um ihn zu braten am Abend zu Hause in etwas Öl und dann mit Zitrone und der Aussicht aufs Meer.
Therese stellt sich zwischen die Angler ans Wasser, die Spitzen ihrer Turnschuhe über der Betonkante des Kais. Sie wippt einmal, zweimal und schaut vor ihre Füße. Manchmal breitet sich die Zukunft so trüb und abgestanden vor einem aus wie das Wasser im Einfuhrbereich eines Hafenbeckens. Brackig, mit Plastikmüll. Ein mehrere Fußballfelder großes Areal der Misslichkeiten, hinter den Kränen langsam in die Ostsee, später in die Weltmeere schwappend. Nur, was willst du machen – den ganzen Tag schreiend durch die Welt laufen? Geht ja auch nicht. Die rotgelben Schwimmer ditschen lautlos. Therese wippt noch einmal an der Kante und geht dann Richtung Mole, die am Ende der Kaimauer in stumpfem Winkel ins Wasser ragt. Sie klettert über die hingewürfelten Betonpoller, unter ihren Füßen schwappt die Brühe und es geht ihr: nun – trotz allem ganz okay. Damit war nach dieser Nacht nicht zu rechnen. Vielleicht hätte sie die andere sonst gar nicht angesprochen.
Auf dem Rückweg von der Mole hört Therese schon aus der Ferne wieder das Radio, die drei alten Bekannten hocken in unveränderter Anordnung und auf der Bank hinter ihnen mit einem Buch dicht vor dem Gesicht: eine dürre Frau in schwarzer Klamotte. Sie sieht aus, als würde sie schon lange hier sitzen, wie sie da die Beine von sich streckt, in ihre Lektüre vertieft, dabei können es erst ein paar Minuten gewesen sein. Sie hat etwas von einem Vogel, einem Raben vielleicht. Therese geht langsamer. Wohin. Ans Wasser, zur Bank? Die Frau sitzt beinah in der Mitte. Wenn sie sich neben sie setzt, ist ein Gespräch unvermeidlich. Als würdest du jemandem in der Wüste begegnen und dann an ihm vorbeigehen, ohne wenigstens die Hand zu heben: undenkbar. Aber was spricht man mit einem mittelalten Raben, der womöglich nicht einmal Englisch kann. Ende dreißig, Anfang vierzig, schätzt sie aus der Ferne. Vielleicht älter. Hallo ich heiße Therese ich komme aus Deutschland. Das geht auf jeden Fall. Sie verlangsamt noch ein wenig mehr, da legt die Frau das Buch zur Seite und geht die paar Schritte zur Betonkante. Die Angler: als würden sie es nicht bemerken. Die Frau blickt über das Wasser, zwischendurch auf ihre Finger, dreht sich eine Zigarette, zündet sie aber nicht an. Ihre schwarzen Flusenhaare mit ein bisschen Grau. Am Hinterkopf eine einzelne weiße Strähne. Therese geht zur Bank, wirft einen Blick auf das Buch, Bulgakow, aber auf Deutsch, und so spricht sie die Frau auch an, als diese zu der Bank zurückkommt.
Tschuldigung: Ich hab Feuer, haben Sie Filter?
Die Frau zieht einen Mundwinkel hoch und greift in die Jackentasche. Sie hält Therese eine Handvoll zerdrückter Filter hin, daran Tabakbrösel, anderes. Bedien dich.
Ein ganz zarter Akzent. Therese nimmt sich einen Filter und nestelt ein klebriges Zigarettenpapier aus der Packung. Der Flaum zwischen Ohr und Kiefergelenk der Frau ist für die dunklen Haare erstaunlich blond. Alles an ihr ist durch und durch mager, der Hals, die Beine, die Handgelenke, und etwas an ihr wirkt ein wenig heruntergekommen, obwohl sich nicht sagen lässt, woher dieser Eindruck kommt. Die schwarzverwaschene Kleidung ist sauber, die Haare sind nicht sonderlich unordentlich, aber irgendwas ist da trotzdem.
Urlaub?
Sprachkurs. Therese inhaliert in ihre schmerzende Lunge und reicht das Feuerzeug weiter.
Ah, sagt die Frau.
Mh-hm. Und Sie?
Urlaub. Quasi.
Dann erst einmal nichts mehr. Schaut nur. In ihrem rechten Auge blinkt es auf, als sie sich die Zigarette anzündet. Und noch einmal. Ein Lichtreflex in ihrer graublauen Iris, der aufscheint, als sie ihren Kopf minimal bewegt und ihre Ausrichtung zum Licht ändert. Therese bleibt diesen einen Augenblick zu lange an ihrem Gesicht hängen, lässt den Moment aber vorüberziehen, als die Frau ihr sehr förmlich die Hand reicht.
Jelena, sagt sie. Oder Lenka.
Therese, sagt Therese und ergreift die kalte Hand. Bei uns gab’s keine Spitznamen.
Ein Nachmittag im Herbst. Eine zufällige Begegnung. Über die brüllende Kulisse eines Radiosenders hinweg ein paar weitere erste Sätze. Über – was? Über Bulgakow. Über die Angler. Was sich hier wohl fangen lässt. Ob man das essen möchte. Dann über dieses und jenes. Was machst du hier, wo kommst du her, was man halt so spricht. Lenka fragt nach der Familie, den Eltern, Therese antwortet knapp, und weil ihr keine andere Frage einfällt, sagt sie: Und Ihre? … Also deine? Obwohl es ihr komisch vorkommt. Ab einem gewissen Alter fragt man nicht mehr nach den Eltern. Bei dieser Frau ist klar, dass Therese auch nicht nach Mann oder Kindern fragen braucht.
Meine Eltern? Die Frau lacht. Die sind in Deutschland.
Was soll man darauf jetzt noch sagen. Meine auch? Sie schweigen. Die Rücken der Angler. Die regungslosen Kräne. Es ist nicht so, dass sie zu irgendeiner Form der Gemeinschaft verpflichtet wäre an dieser Stelle, aber aufstehen und gehen erscheint ebenso unmöglich. Noch eine rauchen. Therese bittet um einen weiteren Filter und sucht sich aus Lenkas Handfläche den saubersten aus.
Was ist denn mit deinen Fingern?
Nichts, sagt Therese. Oder nichts Schlimmes. Nur niedriger Blutdruck.
Es stimmt. Das Zittern liegt bei ihr in der Familie, genauer gesagt in der weiblichen Linie. Alle Frauen mütterlicherseits zittern, besonders morgens. Symptomatische Hypotonie. Ob zuerst das Zittern da war oder erst der niedrige Blutdruck, lässt sich nicht sagen. Aufregung kann eine Rolle spielen. Manchmal hilft ein Glas Saft. Manchmal gutes Zureden.
Ich kann nicht spielen, sagte Therese mit sieben Jahren zu ihrer Mutter, als sie vor dem Musikschulsaal auf den Klappsesseln saßen und warteten, bis das Vorspiel