Hey, sagte Therese, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Hey.
Wie verabschiedet man sich in einer solchen Situation? Die Felixe und ein paar der anderen aus dem Sprachkurs hatten ihr Kraft gewünscht und sie umarmt. Wahrscheinlich hätte Therese das an ihrer Stelle auch getan. Lenka aber wünschte ihr keine Kraft, auch kein starkes Herz. Sie umarmte sie auch nicht. Lenka stand vor Therese und legte ihr zum Abschied die Hand in den Nacken und weil sie nicht besonders dicht voreinander standen, bekam auch der seitliche Teil ihres Halses ein Stück von Lenkas kaltem Handballen ab. Gute Reise, sagte Lenka: Schastlivogo putí, und Therese spürte den Druck von fünf einzelnen Fingern. In diesem Moment öffnete der Taxifahrer den Kofferraum. Als würde etwas den Mechanismus blockieren und jetzt mit einem Kreischen nachgeben. Der Taxifahrer hob entschuldigend die Hände. Aber davon abgesehen, das sagte sein Blick: Können wir?
Hier, für dich. Sie hielt Lenka das Buch hin, es war ein Reflex, mehr nicht.
Lenka betrachtete den Einband und hatte eventuell für einen Moment ihr Gesicht nicht unter Kontrolle. Eventuell stellte sie auch einiges der letzten Tage infrage. Was sollte sie dazu sagen? Lenka entschied sich für: Danke.
Danke, sagte Lenka und ließ Thereses Nacken los.
Aber für eine Erklärung war keine Zeit. Therese blickte in Lenkas Gesicht, hörte die Fingerspitzen des Taxifahrers auf der Kofferraumklappe tippeln und sagte deshalb nur ihrerseits schastlivogo putí, so wie sie es neulich gelernt hatte, sie sagte es sehr leise und absolut korrekt und es war nicht ganz klar, wen sie meinte. Danach noch: Bis bald. Aber das eher aus Gewohnheit.
Ankommen II.
Bevor sie zwischen den Abgasen der ankommenden, abfahrenden, wartenden Reisebusse wieder voreinander stehen, fährt Therese durch die ewigen Weidegründe der Pampa und spielt mit den Mitfahrern über die Bordentertainmentanlage Bingo, ist aber zu langsam, um die ausgerufenen Zahlen auf ihrem Bingobogen zu finden. So viel zu vier Jahren freiwilligem Spanischunterricht am Nachmittag, Mutter. Den Tinto gewinnt eine Muttersprachlerin, die daraufhin im Mittelgang eine kurze Dankesrede hält. Die restliche Fahrt döst Therese im Gefechtslärm eines Historiendramas, nur selten nickt ihr Kopf nach vorne ins Leere.
Später sitzt sie über Stunden im Café des Bahnhofs und wartet auf den Bus aus der Provinzhauptstadt. Wartet sehr lang, wandert umher zwischen den Läden in der Bahnhofshalle, setzt sich, wandert umher. Vielleicht hat sie sich Lenkas Ankunftszeit doch falsch notiert. Jetzt rächt es sich, dass sie sich den Kram nicht ausgedruckt hat. Die beiden WLAN-Netze, die sie findet, sind verschlüsselt und im Café lächelt die Bedienung nur mitleidig, als sie nach einem Internetzugang fragt. Warten. Über Stunden. Auf dem Klo an der Stirnseite des Bahnhofs liegt ein totes Tier in der Ecke, von dem nicht mehr viel zu erkennen ist. Ein riesiger Gecko oder eine halb verrottete Ratte. Um die sirrende Neonröhre schwirren Motten. Draußen ist es schon dunkel und nicht viel los um diese Uhrzeit, nur die älteren Herrschaften mit ihren karierten Plastiktaschen und immer mal einer der Ladenbesitzer zum Rauchen. Im kleinen Radius um den Rucksack und das Handgepäck, die sie auf der Bank vor den Haltebuchten abgelegt hat. Weiter als bis zur Anzeigetafel kommt Therese nicht mit den paar getigerten Metern, die sie das Gepäck im Auge behalten lassen, aber die Anzeige ist offenbar ohnehin schon am Nachmittag des Vortags hängen geblieben. Ob der und der Bus Verspätung habe, fragt Therese einen der Bahnhofsmitarbeiter, der die Mülleimer leert, und der setzt erst an zu erklären, er habe mit den Fahrplänen nichts zu tun, winkt dann aber beruhigend ab: Bis jetzt sind sie noch immer alle gekommen.
Und irgendwann, da ist es schon spät, behält er recht. Als sich die Tür des Reisebusses zur Seite schiebt und Lenka die Treppe herunterstakst, wirkt sie noch magerer als beim letzten Mal. Sie zieht ihr Gepäck aus der Ladeklappe und blickt sich mit ihren schlechten Augen in der Gegend um, bis Therese es nicht mehr aushält und winkt, einmal ihren Namen ruft, husten muss in der Abgasluft, und dann ist Lenka schon bei ihr. Sie umarmt sie unbeholfen und auch hier, in der schwülen Nacht: ihre kalten Hände. Die Hitze staut sich unter dem Plexiglasdach.
Nachts liegen sie am Bahnhof um die Armlehnen der Wartebänke gekrümmt, an Schlaf ist kaum zu denken. Wie dick können die Nähte einer Jeans sein? Therese setzt sich auf und reibt sich die Oberschenkel. Draußen verrichtet ein Presslufthammer sein Werk und irgendwo kreischt eine Säge, vermutlich weil niemand hier um diese Uhrzeit vermutet wird. Lenka liegt regungslos, was erstaunlich genug ist. Es bleibt ein Rätsel, wie Menschen veranlagt sein müssen, um mehrere Stunden am Stück die Ruhe für Schlaf zu finden. Therese ist im Grunde immer müde und schläft trotzdem schlecht. Das ist nichts Neues. Sie sollten sich weniger Sorgen machen. Dieser Ansicht war der Arzt zu Hause gewesen, nachdem er ein großes Blutbild angefertigt und ihr erklärt hatte, es sei, wie ich bereits vermutete, so gut wie ausgeschlossen, dass ihre Müdigkeit etwas mit dem Wachstum zu tun haben könnte. Nicht in dem Alter. Mit Anfang zwanzig. Auch einen Eisenmangel könne er nicht feststellen. Machen Sie sich nicht so viele Sorgen, das würde vielleicht schon helfen. Oder Yoga.
Danke, ich komme zurecht, sagte Therese.
In Berlin saß sie morgens bisweilen ratlos vor dem Kaffee: Wie soll man in diesem Zustand den Tag herumbringen. Sie stand in ihrem Zimmer im Wohnheim, gerade noch auf dem Weg zu einer Erledigung, wollte etwas holen, suchen, nachsehen, schon konnte sie sich nicht mehr erinnern, was es eigentlich gewesen war. Nach einer Weile fiel es ihr wieder ein, doch kurz darauf stand sie wieder in der Zimmermitte. Mit Anfang zwanzig vergesslicher als die achtzigjährige Großmutter. Nachts atmete Therese bewusst einauseinaus, verfolgte jeden Atemzug gedanklich nach, sie stand auf und las, zählte in der Dunkelheit, atmete wieder bewusst, atmete einauseinaus, erklärte sich die düsteren Gedanken mit einem erhöhten Melatoninspiegel, aber es half nichts. Lange schlaflose Nächte.
Doch irgendwann ist jede Nacht vorbei. Sie setzt sich auf. Muss doch geschlafen haben. Steifer Nacken, Erschöpfung. Wenn sie sich wenigstens das Gesicht waschen könnte, aber in der Halle ist so früh am Morgen noch alles verschlossen. Lenka ist schon wach und blättert in einem abgegriffenen Heft mit grünem Kunstledereinband. Kyrillische Zeichen, soweit es sich erkennen lässt, ein paar griechische. Schräg gegenüber die wenigen anderen Fahrgäste, ein Backpackerpärchen in Pluderhosen, ein älterer Herr hinter zusammengebundenen Weidenkörben, ein Kräftiger mit Vollbart und zwei Kindern. Ständig blickt einer hoch zur Bahnhofsuhr: immer noch zwanzig Minuten. Sich weiter im Raum umsehen, ein bisschen im Reiseführer blättern. Eine überdachte Einkaufsstraße. Das kann man ja mal vorlesen. Lenka schaut nur kurz auf, hm, macht sie, dann beugt sie sich wieder über ihr Notizbuch. Schließlich ein Knacken in der Lautsprecheranlage. Der Zug fährt ein.
Vom nördlichen Stadtrand aus schlängelt er sich zweimal in der Woche hinauf in die Berge. Selten genug, um die Pflanzen nicht daran zu hindern, den Gleisen entgegenzuwachsen. Äste quietschen über halb blinde Scheiben. Sobald sie die Stadtgrenze verlassen haben, lichtet sich das Dickicht und der Blick wird weiter. In der Ferne tauchen einzelne Hügel auf, vorne ziehen die Felder vorbei. Zwischen brennendem Feldabfall stehen Kinder und werfen Steine auf die Waggons. Kleinere auf dem Arm ihrer Mütter winken. Richtung Norden nimmt die Zahl der Hunde zu, der Kakteen, der Grillen, deren unablässiges Schnarren selbst über den Lärm des Zuges hinweg durch die Fensterschlitze dringt. Es ist stickig, die Fenster lassen sich nicht weiter öffnen. Die Wärme abgestandener Luft und fremder Körper. Es riecht nach ungeputzten Zähnen und ein bisschen nach Furz. Eines der Kinder hackt mit den Stiefelfersen auf den Sitz ein und hört