Dort oben, hinter der Kurve, wo sich der Weg endgültig vom Dorf hinauf in die Landschaft krümmt, taucht die Brücke auf. Eine Eisenbahnbrücke, haushoch über dem Weg gelegen. Nur ein Gerüst, viel Eisen, wenig Holz, schnörkellos. Falls sie je eine Begrenzung hatte, und sei es ein schmales Geländer, hat man sie sorgfältig und rückstandslos entfernt. Kein Zeichen, dass hier jemals ein Mensch seinen Fuß auf die andere Seite setzen sollte. Vor der Böschung sucht Therese nach einer halbwegs zivilisierten Aufstiegsmöglichkeit, einer Treppe oder Rampe. Vergeblich. Die Böschung ist steil und staubig. Lose Steine, ärmliche Sträucher. Die dürren Wurzelenden haben den Schutz des Erdbodens aufgegeben und suchen die Umgebung nach etwas Feuchtigkeit ab. Da ist aber nichts. Trockener Boden, trockene Luft und irgendwo dazwischen sie selbst: eine nunmehr in der unteren Körperhälfte grau gekleidete Person, die sich am Steilhang abmüht. Sie richtet sich auf, klopft sich den Staub von den Oberschenkeln, aber es wird nicht besser. Nun läuft ihr der Schweiß. Durch die Schneise, die sie getrampelt hat, rieseln Steinlawinen die Böschung hinab, immer wieder rutscht sie ein Stück abwärts, zerkratzt sich die Beine und die Unterarme – ist das Dornengestrüpp oder was –, sie hustet, dazu dieser Müll wie an allen Böschungen der Welt, zerfetzte Plastiktüten, PET-Flaschen und vor allem: der Hunger, die Hitze, diese verdammten Turnschuhe ohne Profil, das ganze Elend, schau an, es braucht gar nicht den Berliner Straßenverkehr, um solche Gefühle zu erzeugen, keinen, der die Autotür vor dir aufreißt und dem du die freche Fresse polieren willst – ich bin bereit mich zu schlagen bis aufs Blut –, wie kann ein einzelner Mensch nur so müde sein, ihr Magen knurrt, sie fühlt sich schwach, der Staub, die Eltern, dieses Dorf, und dann steht Therese doch, trotz allem, oben auf dem schmalen Bahndamm. Na bitte. Mit dem ersten Schritt aus der Böschung heraus ist sie schon auf den von trockenem Gestrüpp überwucherten Schienen. Lenka steht ein paar Schritte weiter an der Brückeneinfassung. Da bist du ja, sagt sie.
Mann, wo warst du denn?
Ich? Ich war hier.
Ja, toll. Wäre echt sehr freundlich, wenn du …
Therese, schau –
Auf der blanken Eisenbahnschiene balanciert jemand. Langsam einen Fuß vor den anderen. Die Brücke unter den Turnschuhen des Mädchens erstreckt sich beinah zweidimensional. Holzbohlen im Abstand eines großen Schritts, darüber die eingleisigen Schienen und zwischen ihnen Fenster in die Tiefe, die den Blick freigeben durch das verschränkte Brückengerüst, rostrot lackiert, bis in Fluss und Felsen. Jetzt kippelt sie an der Kante einer Holzbohle. Sie hält sich an den Gurten ihres Rucksacks fest und starrt in den Abgrund. Ein unbeeindruckter, schlaffer Teenagerkörper im Profil.
Sie bemerken sich beinah gleichzeitig. Sich beobachtet fühlen oder die Anwesenheit anderer Menschen spüren. Intuition womöglich. Jedenfalls blickt das Mädchen in dieser Sekunde auf aus seiner Versunkenheit, sieht Lenka und Therese am Brückenende stehen, schmeißt ihren Rucksack auf die Mittelbohlen, macht einen großen, schnellen Schritt auf die Außenstrebe, einen Sprung eher, und rennt los, in weiten Schritten, links und rechts der freie Fall, das Wasser unten knöcheltief, rennt gleichzeitig ungestüm und gelangweilt: Wenn mich eines ungerührt lässt, dann ist es die Welt.
Oben der Himmel, unten der Fluss, dazwischen die Brücke. Im Hintergrund der Berg mit seiner verbrannten Flanke und über die Außenstrebe der Brücke rennt eine. So fängt es an. Wobei: Im Grunde fängt es natürlich viel früher an, aber wer will entscheiden, wann? Mit dem Entschluss, diese Reise zu tun, oder dem Zusammentreffen zweier Fremder am Finnischen Meerbusen auf russischer Seite, am anderen Ende der Welt? Das ist Monate her.
Jelena, hatte Lenka dort auf der Bank am Kai gesagt, oder Lenka. Und Therese sehr förmlich die kalte Hand gereicht.
Therese, hatte Therese geantwortet. Bei uns gab’s keine Spitznamen.
Viel früher oder später. Mit einer Hoffnung fing es an, einer Sehnsucht, einem Verrat oder einer Verzweiflung. Vielleicht auch einfach, weil sie Lenka gut fand und nichts anderes zu tun hatte, und schon ist sie unversehens in der kargen Landschaft vor einem Dorf gelandet, umgeben von trockenen Büschen und lockerem Geröll, steht da neben Lenka an einer Brückeneinfassung und beobachtet mit ihr diese arme Irre, die über die Außenstrebe rennt. Kurz bevor die Kleine das Ende der Brücke erreicht, bremst sie ab, dreht sich um, rennt nun in die andere Richtung. Rennt, als gäb’s kein Morgen.
Therese schluckt dünnflüssige Spucke, die immer wieder nachläuft. Was macht man in einer solchen Situation? Ein Gespräch vorgeben. Sich demonstrativ Lenka zuwenden. Höchstens beiläufige Blicke werfen. Mit ihrer Aufmerksamkeit wird sie die Kleine jedenfalls nicht in den Tod treiben. Ein falscher Blick von ihnen und sie würde nach links ins Freie stürzen. Oder rechts durch die Holzbohlen kippen und immer wieder am Brückengerüst hängen bleiben. So oder so ein kurzer Fall und keine Zeit zu bereuen, nicht einmal schreien würde sie, ein vages Erstaunen nur, dass es geklappt hat. So leicht geht das also. Keine Tage und Wochen des Bangens, kein Strom, der sie forttreiben könnte, keine Arme, die erstaunlich akkurat von einer Schiffsschraube kurz unterhalb der Schulter abgetrennt würden und schon Wochen vor dem restlichen Körper auftauchten. Eine beinah saubere Sache, wären da nicht der zertrümmerte Schädel und die verrenkten Gliedmaßen. Da brauchen sie auch nicht mehr nach einem Arzt rennen. Später dann vor der frisch aufgeworfenen Erde ein paar Tränen. Oder nein: viele Tränen. So jung war sie. Wem wollte sie denn etwas beweisen, warum haben wir die Signale nicht gedeutet usw.? Dahinter der glatte schwarze Stein mit ihrem Namen. Daran, würde die Familie sagen, werden wir uns nie gewöhnen.
Auf der Brücke.
Schwarz und glatt ist es unter ihr, dazwischen vereinzelte Eisschollen, der Fluss ist noch nicht vollständig aufgetaut. Alles begrenzt von ein paar Funzeln an der Promenade links, kein Mensch zu sehen, erst recht nicht rechts, zerlaufene Dunkelheit Richtung Farbwerke. Nichts Aufgewühltes, nichts stumpf Graues oder Braunes, auch nicht das tiefe Grün mancher Frühlingstage. Zwischen dem Eis schwarz nur und endgültig.
Lenchen war aus dem Taxi gestiegen und bis zur Haustür gegangen, hatte in der Handtasche gekramt nach einem Schlüssel, den sie längst gefunden hatte, als das Taxi endlich losfuhr. Sie wartete noch einen Moment, aber wessen Verdacht sollte sie erregen, und ging dann Richtung Ufer. Sie musste nach dem Betriebsfest nicht einmal mehr hoch in die Wohnung, alles bei sich, auch den Fuchs, leichtes Gepäck. Im Main ist viel Platz. Wenn ich wüsst, ich würd heut sterben, würd ich meinen besten Pelz tragen. Es ist ihr einziger. Füchse zusammengenäht zu einem Überfuchs. Der Fuchs für besondere Anlässe. Über die Weihnachtsfeiertage ein paar Mal getragen, zum Gottesdienst und am Silvesterabend auf dem Balkon. Auch da schon Winter, der gerade erst begonnen hatte und nicht enden wollte. Der Fuchs für heute Nacht gleich doppelt passend.
Beim Schwimmenlernen wäre sie beinah ertrunken, anderer Ort, anderer Fluss, schon kurz vor der Mündung. Ganz ohne Fuchs, nur eine geringelte Badehose auf dem Kinderleib. Vom Balken gerutscht, der unter der Wasseroberfläche im Grund verschraubt war und auf dem sie hintereinander in kurzem Abstand gehen sollten, was kaum möglich war bei der Strömung, und oben die Bewegung üben, die Ärmchen ausstrecken wie ein Frosch, zur Seite schaufeln wie ein Maulwurf, kräftig zur Seite, während in der Flussmitte die langen, flachen Frachtkähne vorbeizogen, die Hügel von Kohle auf dem Rücken. Vom Balken gerutscht, aus der Mitte der anderen heraus und schnell abgetrieben, an der Kaimauer entlang. Irgendwer war auf der Uferpromenade nebenhergelaufen und am nächsten Einstieg die paar Stufen hinuntergesprungen, hatte sie herausgezogen und gleich wieder auf den Balken gestellt. Am Ende des Schuljahres konnten alle Mädchen der Klasse schwimmen, aber wenn es darauf ankommt, wenn man es wirklich will, lässt sich das vergessen. Fast alle, die es wollten, haben es damals geschafft. Der einzige Weg ins Freie, der offensteht.
Im Main ist viel Platz. Es ist kalt hier oben trotz der Füchse und Lenchen sieht keinen Menschen. Aber eine kommt doch vorbei, auch sie im Pelz, täuschend