Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johann Gottfried Herder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066398903
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und den wütenden Trieb zur Begattung, welche Aristoteles für die Bestimmung jedes einzelnen Dinges hält, am besten. Liebe, Hochzeit, Ehe und Ehescheidung: daraus bestünde die Welt. Ferner wäre das Rätsel aufgelöst, welches noch niemand, soviel ich weiß, berührt hat, warum von jedem Geschlechte, fast durch alle Tiere, ohngefähr soviel von dem einen als andern geboren würden.

      Wem dies nicht gefallen sollte, der könnte jedoch noch immer annehmen, daß zu einem Ganzen ein Paar gehört und daß der Verstand von Anfang an alles paarweise hervorgebracht hat, ohne daß eben das Zusammengewächs mehr als jetzt nötig war: in einer solchen bequemen Lage von Materialien zu Schaffung seines mächtigern Ganzen befand er sich.

      Kapitel 38

       Inhaltsverzeichnis

      Ardinghello. Ihr geht wie ein echter Kretenser, Zögling des Minos, mit dem schönen Geschlecht um! Ich glaube, daß ein Mädchen wie ein Mann immer ein unnatürliches Ding sei und daß die tapferste Amazone selbst unter einer Phryne stehe. Ich will Euch hierüber zu keiner neuen Hypothese treiben; wiederholen wir noch einmal Euer Hauptstück.

      So von allem Wirklichen abgesondert mag es wohl endlich leicht sein, zu denken, Verstand des Menschen hat den Menschen hervorgebracht, und ebenso, Verstand jedes Dinges hat das Ding hervorgebracht, durch Hülfe einer Kraft, die allem Raum schafft, sich nach Willkür oder Verlangen zu bewegen: allein sich die Sache auch nur einigermaßen sinnlich vorzustellen ist gewiß ohne Vergleich schwerer.

      Nehmen wir einmal, wie der Verstand des ungebornen ersten Kindes sich das Auge gebildet hat, nur eins fürs erste.

      Wozu braucht er das Auge?

      Zum Sehen.

      Kann er nicht sehen ohne dasselbe?

      Allerdings; da er alles durchdringt, berührt er an und für sich auch gewiß die Sonnenstrahlen oder wird ihre Wirkung gewahr auf Oberflächen.

      Was will er also damit?

      In einen Körper eingeschlossen sich eine Öffnung für dieselben machen.

      Gut. Warum schließt er sich aber in einen Körper ein, da er ohne Auge sehen kann? und demnach auch ohne Ohren hören, ohne Zunge schmecken, ohne Nase riechen und ohne Finger und andre Glieder fühlen?

      Es scheint, er ist des Herumvagierens müde und will einmal einen steten Punkt haben; oder eine Portion Verstand haßt die andre, wie sich Spinnen, und verlangt abgesondert ihr eigen Nest; oder er will weder unendlich groß noch unendlich klein beisammenbleiben, sondern in bequemer Anzahl und ergötzlichem Maße, wie die feinen Wollüstlinge unter Griechen und Römern nur soundso viel Gäste an ihren Tafeln verlangten; oder überhaupt, er kann die Materie in allen Arten von Zusammensetzungen nicht besser genießen, als wenn er sich selbst in sie hineinsteckt; oder endlich das Schicksal zwingt ihn dazu, ob dies gleich für ein Wesen, das alles durchdringt und folglich nicht gebunden werden kann, ungereimt ist. Kurz, dem mag sein, wie ihm will: er macht alles auf einmal zusammen, sich in größerm Umfang, und wie Pygmalion, seine Geliebte. Nach Euern Begriffen ist freilich Verstand selbst so verschiedner Gattung, als Elemente sind; und nur einer ist der König. Also der menschliche Verstand selbst macht einen Bund aus von verschiednen Elementen; und jedes präsidiert darin im Namen der übrigen seiner Gattung und dringt auf besondern und eignen Genuß dafür.

      Warum aber ist der Verstand des Kindes, wenn es fertig oder völlig ausgebildet ist, nicht mehr so gescheit, als er im Anfang war?

      Demetri. Das ist er und bleibt es, durch alle Stufen des menschlichen Alters derselbe; alle Teile, die abgehen, ersetzt er wieder und bedient sich überdies seiner neuen Sinnen. In der Komposition selbst, deren Ursprung ich schon auf verschiedne Weise berührte, muß er freilich erst Erfahrung sich erwerben. Verstand kömmt von stehen24; er muß alsdenn lange vor den Dingen einer Gattung gestanden haben, ehe er sie vollkommen mit seinen Sinnen durcherkennt und sich davon ein Ideal bildet.

      Einige Alten behaupteten auch, daß er schon lange studiert habe, bevor er ein so herrliches Ganzes wie den Menschen ausklügelte; es ließ sich dieses aus der auffallenden Ähnlichkeit, größern und mindern Vollkommenheit der Teile von Tieren schließen. Die Pythagoräer nahmen nach dem Aristoteles als einen Grundsatz an: Speise und Raub ist eher gewesen, als was sich davon nährt; und wahrscheinlich! je ausgearbeiteter die Speise, desto leichter der Übergang zu höherm Leben. Kein vernünftiger Arzt wird daran zweifeln, daß der Mensch selbst die beste Kost für den Menschen wäre. Wer weiß, ob die Welt jetzt so vollkommen ist, als sie sein kann. Obgleich ewig, mag sie doch Kind, Jüngling und Mann, Jungfrau und Matrone zur Abwechslung werden; denn sie ist nicht ganz vollkommen, solange noch Unvollkommenheit darinnen da ist.

      Ardinghello. Von Menschenfressern also hätten wir die eigentliche Verklärung zu erwarten, das tausendjährige Reich? Ein starker Kontrast mit den Schulen der Weisen!

      Demetri. Aus dem scheußlichsten Dünger, wenn ich ein verkehrtes Gleichnis brauchen darf, wachsen die schönsten Blumen und Früchte. Wir schätzen unsern Körper viel zuwenig; und doch muß jeder fühlen, daß ihn ein Händedruck, Kuß und Umarmung von einer schönen Person ganz anders ergreift als der wohlstilisierteste ciceronianische Brief von bloßem Geist oder einer, die er nicht kennt.

      Ardinghello. Wir schweifen aus; wieder zur Sache!

      Warum wissen wir aber nicht, daß der Verstand die Teile ersetzt, die er im Körper nicht festhalten kann und die demselben durch die Zeit abgehen?

      Demetri. Wir wissen nur durch unsre äußern gröbern Sinnen; und dahin dringt keiner.

      Ardinghello. Erstaunliche Richtigkeit und ein Gefühl von Maß, das das der Goldwaage zentillionenmal übersteigt, gehört gewiß dazu, ein Bein nicht kürzer und länger gleich im Anfang zu machen als das andre, und so einen Arm wie den andern, und Auge wie Auge; und so die Zähne und die Rippen in höchst genauer Proportion; und dann zu vergrößern und zu erhalten! Und dies sind nur grobe Sachen gegen anders bei Insekten.

      Demetri. Er ist auch nicht umsonst so fein! und es gelingt nicht immer; die Alkibiaden und Phrynen sind bei jeder Tierart selten.

      Ardinghello. Auf einer andern Seite betrachtet, ist's nun wieder gar nichts Außerordentliches und Erhabnes; weil er wie ein Affe alles nur nachahmt, wie er's vor sich findet, und gar nichts ändert: so recht im alten Schlendrian der lieben Gewohnheit versunken und verloren. Er gibt sich gar nicht mehr die Mühe, etwas Neues zu erdenken.

      Demetri. Woher wißt Ihr das? Und doch schon genug, wenn er sich so wohl befindet! Er kann nicht mehr als die Materie aufs beste verarbeiten, in die er kömmt. Die Natur geht äußerst langsam und bedächtig in ihren Fortschritten, sie hat unendliche Jahrtausende vor sich und wir nur einen Augenblick Lebensdauer in der Komposition, sie zu beobachten.

      Ardinghello. Mich deucht, Ihr hättet schon gesagt, im Anfange wär alles besser gewesen. Vielleicht sind wir doch von der Höhe des Bogens herunter!

      Aber Freund, warum kann der Verstand den Körper nicht umändern, wenn er ungestaltet, häßlich oder krank ist? warum nicht verjüngen?

      Wolken, lieber Demetri, nichts als Wolken und metaphysische Träume! Nehmen wir lieber doch noch die gewöhnliche Meinung an, die Ihr kurz vorhin verwarft. Ich glaube, daß, so wenig sich der Mensch jetzt selbst hervorbringt, er von Ewigkeit sich nicht selbst hervorgebracht hat. Er ist! aber es muß allezeit ein mächtiger Wesen ihm den ersten Stoß und die Bequemlichkeit zum vollen Dasein verschaffen.

      Die vier Aristotelischen Elemente allein werden nie in allen möglichen Zusammensetzungen mehr als die vier Aristotelischen Elemente sein; es gehört gewiß noch etwas anders zu meinem Ich und deinem Du.

      Wenn wir etwas ohne fernern Grund annehmen, warum sträuben wir uns, alles, was wir nicht anders erklären können, ohne fernern Grund anzunehmen? Jedes Individuum ist von Ewigkeit der Form nach da in der Natur und von allem andern unterschieden; und keine Urform läßt sich weder schaffen noch zerstören. Nur gehört ein