Nacktgespräche. Wilfried Heinrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Heinrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991079316
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Toleranz hört genau ein paar Zentimeter vor dem silbernen Schild mit der Entblößungspflicht auf. Du wolltest dir gar nicht erst Gedanken machen, warum sich Menschen wie ich nicht nackt in der Öffentlichkeit zeigen, du hast sofort mit deutschen Vorschriften argumentiert. Kein Widerrede, keine Toleranz, hier herrscht Ordnung, schau gefälligst auf das Schild, das ist deine Wahrheit und deine Toleranz!“

      Was ist passiert? Wieso jetzt die neue Spannung, warum zum Geweihkampf zurück? Für mich so schnell nicht zu ergründen.

      „Du verwechselst Toleranz und Ordnung, mein Lieber.“ So will der Perser zwar gerade nicht angesprochen werden, zumal ihm jetzt eine Stimme in gleicher Schärfe wie die eigene entgegen schlägt. Aber er mag noch zuhören.

      „Mit klaren Ordnungsvorschriften funktioniert es zwischen Menschen, Toleranz steht hinter den Regeln. Nimm das Kinderkarussell, da läuft alles geordnet, genau das ist meine Erwartung. Dagegen bewegst du dich auf dem Autoscooter, wo sich alle ohne Regeln gegenseitig ins Visier nehmen. Dort ersetzen dicke Stoßfänger die Regeln, willst du mir sagen, dass Leben mit dicken Stoßfängern schöner wird?“

      Der Vergleich amüsiert, passt so auch nicht ganz, aber der Perser wird müde. Soll er trotzdem gegenhalten?

      Nein, erst mal nicht, alles sieht nach einem Patt aus. Beide im Rückzug, die Augen auf sich selbst konzentriert, Frieden. Bis der Grauhaarige nach zwei, drei Minuten die Frage stellt, wo der Perser geboren sei.

      „In Karadsch, eine größere Stadt, nicht weit von Teheran entfernt.“

      „Schon länger in Deutschland?“

      „Seit 13 Jahren.“

      „Verheiratet?“

      „Ja, und sogar mit einer deutschen Frau.“ Er lässt die Antwort von einem ernst wirkenden Zufriedenheitsgrinsen begleiten, neues Lebenszeichen.

      „Glückwunsch, dann scheinst du gut integriert zu sein. Vermute ich mal, gilt das auch beruflich?“

      „Auch da. Maschinenbauingenieur, promoviert, fester Job, perfekt zertifiziert nach deutscher DIN-Norm.“

      Er betet die Antworten herunter, auswendig gelernt, die Fragen belustigen ihn. Nach winzigen Pause ein offensives Grinsen, es erzählt eine fast schon durchtrieben erscheinende Selbstsicherheit:

      „Brauchst du einen Vorzeigemigranten, willst du mich buchen? Bezahlt wird mit ein paar Exemplaren der deutschen Verfassung, Spesen in bar.“

      Sein Fröhlichkeitsreservoir ist inzwischen wieder gut aufgefüllt, er lacht und weiß, dass er ein gutes Blatt in den Händen hält. Während ich erst in mich hinein horche und dann frage.

      „Macht ihr hier ein Verhör?“ Ich schaue beiden abwechselnd in die Augen, nur von einem kommt eine Reaktion.

      Die Duschen klingen gerade wie die Regenschauer vorhin draußen.

      „Präzise erkannt.“ Der Iraner nickt vergnügt, ihm ist die Routine anzumerken, mit derartigen Fragen hinterlistig provoziert zu werden und die Konfrontation dann doch immer souveräner als Sieger zu beenden.

      Ob das bei seinem jetzigen Gegenüber genauso läuft? Der zeigt zunächst keine Gefühlsreaktion auf den ironischen Unterton des promovierten Maschinenbauingenieurs, nach etwas Überlegung dringt jedoch aus biederen Mundwinkeln eine böse Reaktion nach draußen.

      „Um ein gutes Mitglied einer Schafherde zu sein, muss man vor allem erst einmal ein Schaf sein, hat Einstein gesagt.“ Gesprochen fast im Stechschrittrhythmus.

      Er schaut in die Runde und will sich selbst bestätigen. „In dem Satz steckt viel Substanz drin, oder?“

      Er zwingt mich zum Überlegen. Einstein war der Mann mit der Relativitätstheorie, aber was hat sie mit der Diskussion hier zu tun? Mir erschließt sich kein Zusammenhang. Dass sich in der Buchung eines reiserücktrittsversicherten Pauschalurlaubs relativ viel Schaf verbirgt? Bestimmt nicht, Schafe sind gutmütige Wesen und intelligent. Sie können sich beispielsweise zwei Jahre lang über fünfzig Gesichter ihrer Artgenossen merken.

      Eine andere Alternative, seine Äußerung zu entschlüsseln: Er ist das schwarze Schaf und wir tolerieren ihn relativ gutmütig? Oder hat er einfach nur Viertelwissen aufgeschnappt? Sinfonien an Denknuancen traue ich ihm jedenfalls nicht zu.

      Letztlich egal, ich muss jetzt eingreifen, mich beschleicht die Idee einer ganz anderen Interpretation!

      „Wenn wir den Einstein mal weglassen: Du willst wissen, wie viel Gramm Deutsches in ihm steckt?“

      Ich glaube jetzt sogar, dass er das so meint. Die Empörung klopft in den Adern meines Kopfes und drückt sich auch in meiner Stimme aus. Gerne hätte ich noch angefügt, wie armselig er für mich rüberkommt. Ich halte diese Bemerkung nur deshalb zurück, weil ich letztlich nur Außenstehender ihres Gesprächs bin. Was an meiner Verärgerung jedoch nichts ändert. Soll er doch im nächsten Leben eine Sandschaufel werden.

      Hatte ich erwartet, dass er mir eine scharfe Antwort entgegen wirft, so entwickelt sich die Situation erst mal anders. Seine Reaktion wirkt mimisch und klingt stimmlich besonnen, fast sogar liberal, typische Gesichtszüge eines verständnisvollen Freundes.

      „Mag sein, dass nicht alle meine Standpunkte teilen, ich ihre genauso wenig.“ Seine Augenbrauen gehen nach oben.

      Aber Vorsicht, meine Intuition hebt den warnenden Finger. Solche rund gelutschten Äußerungen sprechen Politiker oder Menschen mit dunklen Motiven. Sie sollen einschläfern und entpuppen sich dann als Startrampe für ein böses Geschoss. Und genauso kommt es auch, er wird beleidigend. Unterschwellig zwar, doch genau drin steckt die fiese Methode.

      „Dir fehlt noch ein wenig das Talent, Kulturunterschiede in ihrer soziologischen Bedeutung betrachten zu können.“ Seine Kritik formuliert er stilistisch erhaben wie populistisch, doch genau darin steckt ihre kalkulierte Wirkung.

      „Klär mich auf, was du angeblich besser weißt“, fordere ich angesäuert ein. Wie angenehm waren im Vergleich zu ihm heute die Regenschauer.

      „Frag mal deine Frau Google, vielleicht oder bestimmt kann sie dir Nachhilfe geben.“

      Der Iraner bekommt Spaß an unserer Konfrontation. Schelmisches Augenzucken, da ich den Vorschriftsmenschen nun an der Backe habe und er sich aufs Zuschauen beschränken kann.

      Ich möchte mir mit ihm weder ein Beleidigungsduell liefern noch in einen rhetorischen Schaukampf ziehen oder gar von ihm gezogen und am wenigsten durch lehrerhafte Attitüden belästigt werden. Einerseits, die andere Seite gewinnt jedoch die Oberhand.

      „Wie armselig, dass du dich mit einem willkürlich herbei gekramten Zitat erhöhen willst und anderen damit die Laune stiehlst.“ Energische Stimmen in mir drängen mich dazu, ihm einen Tritt in seine empfindlichste Stelle, in seine Überheblichkeit, zu verpassen. Und so passiert es auch.

      „Arroganz ist die Kunst, auf die eigene Dummheit stolz zu sein.“

      Kaum habe ich den Satz ausgesprochen, plappert er sofort los. Etwas, was er vermutlich bereits im Kopf vorformuliert hatte, denn es kommt gänzlich ohne Bezug auf meine bewusst angelegte Attacke.

      „Einsteins Zitat besagt, dass nur gut zusammen passt, was sich sehr ähnelt. Schafe passen nur zu Schafen und nicht zu Wölfen oder Eichhörnchen. Unterschiedliche Wesensarten können nie dauerhaft eine harmonische Einheit bilden, so einfach und so richtig.“

      Das ist der Hammer! Entsetzt blicke ich zum Perser hinüber, er sucht mit seinen Augen Halt in meinem Gesicht, wir starren uns an. Hatte er das jetzt wirklich so gesagt? Das macht ja alles noch schlimmer! Wirkte er anfangs nur unsympathisch und charakterlich etwas spärlich, aber jetzt?

      Noch während ich überlege, ob und wie ich seine Äußerung kommentieren soll, da übernimmt der Perser schon das Wort. Seine beiden Hände greifen zum Kopf, der bewegt sich automatisiert nach rechts und links, in seinem Gesicht zeichnet sich die Angst vor Geröllmassen ab. Die immer dicker werdenden Blutadern am Hals zeigen mir, dass er sich bemühen muss, einen Kontrollverlust zu vermeiden.

      „Ersetze