Nacktgespräche. Wilfried Heinrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Heinrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991079316
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es gehört zur unausgesprochenen Regel, dass hier jeder seine ganz persönliche Duftnote abgeben darf. Das gilt auch für den häufig anwesenden Mann in den Fünfzigern, lustige Halbglatzenfrisur mit Spaß an akademischer Sprache. Genetisch hätte es wohl auch bei viel Bemühen in jüngeren Jahren nie zu einem Beachboy gereicht. Zu seinen Lieblingen gehören jene Charaktere, die mit ihren besonders ausgeprägten Eigenarten fast automatisch für Spektakel sorgen. Prallen sie zusammen, zieht er seinen launigen Spaß.

      „Wenn selbstverliebte Sixpacks auf fleischgewordene Abrissbirnen treffen.“

      Ausgerechnet sowas passierte natürlich nicht, genauso wie die Charakteristik, die von Menschen im Vordergrund steht. Sondern es sind die Geschichten, die aus den Konfrontationen dieser Menschen und ihrer Themen entstehen. Unterhaltsame wie spaßvolle und berührende Momente. Unbedingt erzählenswert, ich habe einige von ihnen protokolliert, damit sie nicht mit unserem Schweiß im Abfluss versiegen.

      Herausgekommen ist ein Band mit Nacktgesprächen, Streifzüge durch Lebensüberraschungen von Menschen und ihren in der Sauna freigelegten Auffälligkeiten. Das gilt etwa für den Wildschweinjäger mit ökosexueller Beziehung zu einer Veganerin, das Vergewaltigungsopfer und seine aggressive Offenheit, die versteckten Hilferufe eines Rentners und seine altersverzweifelten Dating-Ambitionen. Ebenso der Migrant, der mir die Augen öffnete, wie viel Vorurteile manche meiner Alltagsmeinungen offenbaren.

      Ganz anders bei dem nackten Politikerpenis, der in mir abstruse Gedanken entfachte, oder die Frau, die den großen Trend nach narzisstischer Individualität als moderne Droge geißelt. Sie das Gegenteil eines Diktaturliebäuglers, der in akademischen Theorievokabeln absolutistischen Staatssystemen das Wort spricht, aber letztlich nur sein grundgesetzlich verbrieftes Recht auf Dummheit geltend machen konnte.

      Von solchen Gedanken ist ein anderer ergrauter Mann weit entfernt, er ließ uns stattdessen seinen traurigen Kampf gegen die Zeit miterleben. Der Versuch, seiner krebskranken Schwester noch schnell den Wunsch zu erfüllen, sich einmal wenigstens für ein paar Minuten als Model zu fühlen, misslang. Einer meiner Herzhelden in den Nacktgesprächen.

      Proteine auf der Flucht

      Dicere argentum, silere aurum est. Ohne Latinum, deshalb lieber auf Niederländisch? Spreken is zilver, zwijgen is goud. Es ist das Sprichwort von Silber und Gold, das dazu auffordert, den Mund manchmal besser auf stumm zu stellen, gilt fast überall auf der Welt. Die Finnen, Perser und Türken kennen es, genauso die Japaner und Araber oder Kroaten.

      Nur haben ihn seine testosteronschwangeren Hirnzellen schlecht beraten. Sie haben ihn reden lassen statt zum nächsten Kraftgerät weiterzuschicken.

      „Ganz viel Eiweiß, das knallt richtig rein, ein Omelette mit zehn Eiern direkt nach dem Training. Glaub mir, brauchst du jeden Tag, weiß jeder.“

      Dieser artikulatorische Dummfall ist erst mal der Schlusspunkt eines längeren Statements des muskelstarken Kerls. Eigentlich sehr schicke Proportionen, von den Schultern runter bis zu den Waden. Was trotzdem gegen optische Sympathiepunkte spricht, ist seine eigenwillige Körperbemalung. Entweder die ganz spezielle Kreation eines unverstandenen Künstlers oder durch die Hand eines Tattoo-Legasthenikers entstanden.

      Sein Statement richtet sich an seinen Kumpel rechts neben ihm, kantige Figur eines Billy-Regals, Kontrastprogramm zu der Bizeps-Maschine. Dabei wollte er gar nicht so genau wissen, warum manche ständig diese Eiweißmengen benötigen, ganz unabhängig davon, dass ihm das Krafttraining völlig artfremd erscheint. Trotzdem hatte er brav zugehört und dabei immerhin interessante Sachen erfahren. Dass Muskeln zu einem Großteil aus Eiweiß bestehen und dass Protein-Shakes nichts für seinen Bizeps-Kumpel sind, sie könnten immerhin aus schlechtem Eiweiß bestehen.

      „Jedes Kilo von deinem Körpergewicht braucht jeden Tag zwei Gramm Protein, echt jeden Tag von Montag bis Freitag und auch am Wochenende“, klärt der auf. Das summiert sich bei ihm nach seiner klugen Rechnung auf ungefähr zweihundert Gramm. Er würde sich meistens noch einen Nachschlag gönnen.

      „Viel hilft viel und wenn zu viel, dann strullst du’s wieder aus.“

      Der Muckiträger strotzt vor Selbstüberzeugung, und er sonnt sich darin, dass er nach seinem mathematischen Exkurs in einige wissbegierige Blicke schauen darf. Läuft bei ihm.

      „Die Proteine killen dein Fett und machen das zu mega Kraftfleisch,“ sagt er und bringt seinen Oberkörper durch eine seitliche Drehung in eine Präsentationsposition.

      „Kollege, guck mich an! In ein paar Wochen hab ich über neun Kilo mehr Muskeln gekriegt.“

      Wie viele Wochen es tatsächlich waren, lässt er offen und überhaupt: Wurden Muskeln früher nicht in Krafteinheiten statt anhand der Gewichtszunahme gemessen? Habe ich etwas falsch verstanden?

      Egal, seine Erfolgsbotschaft geht aus einem breit lächelnden Mund heraus, auf seinen Lippen funkeln Glückshormone.

      „Richtig Tonnen stemmen und danach einen geilen Eierkuchen. Du darfst nur nicht lange warten, weil beim Powern die Muskeln geil auf Proteine werden. Du musst dir die Eierkuchen ganz direkt nach dem Training machen, innerhalb einer Stunde reinstopfen.“ Willkommen im Bizeps-Seminar.

      Einigen Gesichtern sehe ich ihre ungläubigen Gedanken an, selbst seinem Kumpel erscheinen diese Mengen Proteine suspekt.

      „Kriegt dein Magen dann keinen Koller bei so viel Eiweiß?“ Gutes Hochdeutsch aus einem mitteleuropäischen Wohlstandsgesicht, fetter Basston im Wortklang.

      „Nix, null Nebenwirkungen, wirklich. Ist gesund. Du musst nur viel trinken, die Nieren brauchen das.“ Sicher, und Petersilie verzwergt durch Helene Fischer-Beschallung auf eine kaum sichtbare Höhe?

      Sein anschmeichelnder Blick tastet sich nach rechts und links durch die Gesichter der anderen. Er wünscht Beifall dafür, dass er uns diese Erkenntnis mitgeteilt hat. Sie bleiben aber still.

      Bis auf Rüdiger. Er bekommt von mir diesen Namen, weil nach meinen Gedankenbildern Männer in seiner Erscheinung typischerweise Rüdiger heißen. Untersetzt, quadratisch, den Kalorien sehr zugetan, Glatze bis zu den Knöcheln herunter. Ein Geschenk für lästerhafte Augen.

      „Täusche dich mal nicht! Sehr wohl rebelliert dein Körper, wenn du ihn ständig mit zu großen Mengen Eiweiß versorgst.“

      Warum mischt er sich jetzt ein? Ist es überhaupt angebracht, mit einer derart unterlegenen Muskelperformance den Besserwisser spielen zu wollen? Natürlich, warum nicht? Wo es FKK gibt, sieht je nach ästhetischem Anspruch auch mindestens die Hälfte der Nackten genetisch zweifelhaft aus, meinungslos müssen sie trotzdem nicht sein. Erst recht wie in Rüdigers Fall, wenn optische Schlechtnoten durch etwas intellektuellen Habitus verbessert werden können. Was nicht jeder anerkennt.

      „Vergiss es Kollege, lass es. Ich merke nichts, absolut nichts.“

      Die Gegenwehr des Kraftstrotzers wirkt vor allem trotzig. Seine Tonlage ringt um Selbstbewusstsein, seine Stimme verliert an Kontrolle, auch die Gesichtszüge beginnen einen unruhigen Tanz. Er spürt, dass seine Selbstverteidigung nicht ausreichend funktioniert, er kramt deshalb schnell nach einem hoffentlich offensiven Argument. Es kommt nur ein allgemeiner Widerspruch dabei heraus.

      „Was überall normal ist bei Muskelsportlern, soll bei mir auf einmal scheiße sein?“ Er merkt selbst, wie blass er gerade daher kommt, deshalb wiederholt er trotzig:

      „Vergiss es, Kollege!“

      Rüdiger bleibt unbeirrt. Er weiß es besser und er will deutlich machen, dass er es besser weiß. Mir erschließt sich nicht, warum er bei so einem für uns alle trivialen Thema auf Konfrontation macht.

      „Warte ab, auf einmal kriegst du fürchterlichen Mundgeruch und dein ganzer Körper beginnt gewaltig nach Nagellackentferner zu duften. Klasse Perspektive, oder?“ Es folgt ein Nachschlag mit arrogant erscheinender Gewinnermiene:

      „Lass im Kopf mal einen Film ablaufen, wie dann dein nächstes Date abgeht.“

      Es entsteht eine Mischung aus spontanem Lachen, amüsiertem Stirnrunzeln und feixendem