Nacktgespräche. Wilfried Heinrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Heinrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991079316
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endlich versucht er, Rüdigers körperliche Nachteilserscheinung zu einem Treffer für sich zu machen. Doch der lässt die Anspielung regungslos an sich abgleiten, sie rinnt wie der Schweiß an seinem Körper herunter. Dafür zündet er eine nächste Salve.

      „So ganz nebenbei kriegst du auch noch ziemliche Verdauungsprobleme und obendrein öfter schlechte Laune. Ewig auf dem Klo hocken und ständig Stress mit allen um dich herum, beste Grüße von deinen Proteinen.“

      Rüdigers emotionsblasse Mimik lässt immer noch nicht erkennen, was es ihm bringt, sein Gegenüber als aufgepumpten Schönling zurechtlegen zu wollen. Dass er irgendetwas in dieser Hinsicht verfolgt, lässt sich kaum noch übersehen. Positiv interpretiert stecken edle Motive dahinter: Ihn aufklären und Bewusstsein für die möglichen Konsequenzen eines starken Eiweißkonsums zu schärfen. Also ein bisschen den sozial verpflichteten Gutmenschen geben.

      So sieht’s für mich aber nicht aus. Eher glaube ich langsam aus seinem aufleuchtenden Mienenspiel herauslesen zu können, dass er die seltene Chance nutzen möchte, einem an Körperschönheit völlig überlegenen Kerl endlich mal so richtig eine in die Fresse geben zu können. Einfach nur aus neidischer Lust.

      Jedenfalls lässt er nicht locker und wird immer gezielter.

      „Ist dir beim Blick in den Spiegel schon mal aufgefallen, dass sich einige deiner Proteine scheinbar nicht wohl fühlen und deshalb wieder die Flucht nach draußen angetreten haben?“

      Mir erschließt sich dieser Satz nicht direkt, der Muskulöse versteht diese Beschreibung ebenfalls nicht, jedenfalls reagiert er mit einem Unverständnisblick. Er fühlt sich provoziert.

      „Willst mich ankotzen?“

      Was sich bei seinen anfänglichen Erzählungen zu der Proteinzufuhr so vergnügt anhörte, hat sich nun in eine defensive, fast kleinlaut-piepsige Stimme verwandelt. Selbstzweifelnde Grinsefalten überlagern nun sein Gesicht. Hat er doch eine Vermutung, was Rüdiger mit den flüchtenden Proteinen gemeint haben könnte? Und fühlt er sich deshalb im Klammergriff?

      Ja, er ahnt es nicht nur, sondern er weiß es sogar genau. Rüdiger hat ihn in der Ecke, und überhaupt, er sei Doc, offenbart er. Sein Blick fixiert die Akne-Pusteln auf den Schultern.

      „Schau dich mal im Spiegel an, viel Ausschlag. Der kommt garantiert von einem Übermaß Whey-Protein. Hab ich recht, zu den Eiern schluckst du noch Whey-Shakes?“

      „Was für Dinger?“, fragt jemand.

      „Hochkonzentrierte Präparate für die Muskelzucht“, schlaut ihn Rüdiger auf und nagelt seinen zunehmend dominanten Blick starr in die Augen des Muskelmodels.

      „Sag einfach, mischst du dir das?“, penetriert er.

      Der wendet erst sein Gesicht ab, seine Pupillen wandern unruhig über den Boden, nach längeren Sekunden antwortet er mit dem zerrissenen Selbstbewusstsein eines Ertappten.

      „Ja schon, manchmal, aber nicht oft.“ Leichte Vibrationen in der Stimme, Muskeln machen doch nicht selbstbewusster, während sich Rüdiger auf der Zielgeraden fühlt. Er kann seine Häme endgültig nicht mehr verbergen. Oder will es nicht.

      „Lass es, du tust dir nichts Gutes! Das Zeug kommt als Proteine bei dir durch die Tür und flüchtet als Eiter irgendwo wieder raus.“ So verpackt man vorgegebene Fürsorglichkeit in einer Splitterbombe. Aber er wird je nach Sicht noch deutlicher oder noch gemeiner.

      „Die Hässlichkeit von Akne übertrumpft die Schönheit von Muskeln, sie lassen einen unappetitlich aussehen.“

      War das jetzt ein böses Foul oder ein faires Tackling? Die meisten um die beiden herum, ich auch, schauen uns betreten an. Von niemandem kommt eine Rote Karte, mir tut der Gefoulte sogar ein bisschen leid. In meiner ersten Reaktion. Und in der zweiten Reaktion finde ich ihn nun einfach waschlappig, ihm ist mental völlig die Puste ausgegangen. Keine wilde Empörung, wenigstens einen böslaunigen Protest loswerden. Doch nichts, gar nichts geschieht.

      Stattdessen nur der Versuch, mit künstlich-souveränem Lächeln irgendwie Haltung zu wahren. Diese selbstbetrügerische Gesichtsmaske von Menschen, denen das Wasser bis zur Unterlippe steht, die aber wenigstens in Würde untergehen wollen. Noch ein kurzer Blickwechsel mit seinem möbelformigen Buddy, seine Gedanken durchlaufen einige Kontrollschleifen seines Hirns, dann kommt endlich eine Reaktion von ihm und sie überrascht auch noch.

      „Gib zu, du bist nicht wirklich Arzt?“ Blickpause, fast bettelnd: „Stimmt’s?“

      Rüdiger zieht lässig die Augenbrauen hoch, bringt seine Gesichtszüge in einen selbstzufriedenen Spaßmodus und rückt seinen Oberkörper zurecht. Alles zusammen macht sein Doppelkinn erkennbarer als vorher.

      „Nichts von dem, was ich gesagt habe, war falsch. Und ja, Doc bin ich auch.“

      Warum verklausuliert er seine Antwort?

      Rüdiger bekommt seine Sonnengrimasse nicht mehr weg, ein rundes Standbild.

      „Natürlich bin ich Arzt.“ Kunstpause, keine Bewegung in seinem Gesicht.

      „Tierarzt.“

      Mittellautes Schmunzeln um ihn herum, nur kurz von einem empörten Zischen einer zierlichen, spätreifen Frau weiter links von ihm unterbrochen. Und ja, auf einmal wird das Muster seiner Story erkennbar. Fehlt jetzt nur noch das Leckerchen für unsere Muskelschönheit.

      Horden schwuler Hooligans

      Neumitglied im Sportstudio, es könnte schlimmer kommen, trotzdem.

      „Was geht? Kann ich dir helfen, dich hier zurecht zu finden?“ Eine gnadenlose Frage, so gut gemeint wie entblößend.

      „Oh nein, lieben Dank, wirklich nett von dir, aber das ist wirklich nicht nötig.“ Freundliche Atmosphäre zum Einstieg, aber als hilfsbedürftig identifiziert werden? Never, Sport geht leicht.

      Selbstsicher von sich gegeben, nur anders gedacht. Niemand soll aus den schüchtern herumirrenden Gesichtsbewegungen der Novizen herauslesen, wie gerne man in dem Dschungel an monströsen Geräten eine erste grundsätzliche Orientierung bekommen würde. Der Stolz spricht dagegen, das Ego stößt kräftig in die Rippen, egal ob Frau oder Mann: Nicht die kleine Maus geben, geht’s noch peinlicher?

      Solch ein Zwiespalt wiederholt sich täglich, sobald Neulinge die Klippe der Anmeldung überwunden haben und sich möglichst unerkannt unter die Horde der offensichtlichen Besserkönner mischen wollen.

      Dabei war irgendeinmal jeder einmal gymgrün hinter den Ohren. Geschlüpft als muskelbedürftiges Geschöpf, das unsicher durch die komische Gerätewelt tappert. Inmitten mystischer Metallmaschinen mit irgendwas dran, das man drücken, ziehen oder sonst wie bewegen muss. Unverständlicherweise geben andere bei dem persönlichen Konflikt mit den so anstrengend bedienbaren Hebeln und Griffen eine weitgehend souveräne Figur ab.

      Der Gegenentwurf sind solche, die zwischen Hanteln sozialisiert worden sind. Rechts neben mir beobachte ich zwei solcher Exemplare. Der eine als Poolboy gut vermittelbar, bräunlicher Teint, der Körper ein einziger Bizeps. Den anderen, optisch mit südfranzösischem Akzent, würde man auch gut untergebracht kriegen. Sie verschlingen die Muskelpowergeräte mit einer imposanten Leichtigkeit der Reihe nach durch.

      So etwas wahrzunehmen, kann für den durchschnittlichen Frischling nur Frust erzeugen. Sie scheitern bereits daran, eine halbwegs nutzbare Gebrauchsanweisung für die einschüchternden Studio-Accessoires zu finden. Irgendetwas, das ihnen sagt, wie sich die unsympathischen Apparaturen vielleicht zu Best Buddies umfunktionieren lassen. Wenigstens eine Prognose bekommen, wie den Geräten in absehbarer Zeit eine gewisse Kooperationsbereitschaft abgewonnen werden kann. Die Geräte können ruhig ihren Spaß an den mutig gestarteten und grandios gescheiterten Versuchen haben, irgendwann beim Kampf gegen die überflüssige weiche Körperphysiologie ein Einsehen bekommen.

      Viel Wunsch, wenig Realität. Die Apparate bleiben in den ersten Sessions ziemlich unergründlich und stur. Da bleibt den Debütanten wenig anderes übrig, als das Gesicht zu wahren.